Porträt der Woche

Raus aus der Komfortzone

Shem Stoler ist Kung-Fu-Trainer, findet Berlin »cool« und lernt intensiv Deutsch

von Philipp Fritz  22.02.2016 19:32 Uhr

»Für mich ist es ein Abenteuer, in Deutschland zu sein und hier meinen Alltag zu meistern«: Shem Stoler (32) aus Berlin Foto: Katharina Bohm

Shem Stoler ist Kung-Fu-Trainer, findet Berlin »cool« und lernt intensiv Deutsch

von Philipp Fritz  22.02.2016 19:32 Uhr

Eigentlich ist es ganz einfach – ich bin 2015 hierhergezogen, weil Berlin die aufregendste Stadt in Europa ist. Vor allem kulturell – es ist bunt, viele verschiedene Menschen leben mit- und nebeneinander, und ich habe das Gefühl, dass ich hier viele Möglichkeiten habe, mich selbst zu verwirklichen.

Meine Freundin und ich haben uns im August 2014 in Berlin kennengelernt, sie stammt aus Neuss in Nordrhein-Westfalen und ich aus Israel. Köln oder eine andere deutsche Stadt kamen für uns erst einmal nicht infrage, vielleicht auch deswegen, weil wir uns in Berlin kennengelernt haben.

lebensweise Nach meiner Ankunft habe ich angefangen, das zu tun, was ich auch schon in Israel getan habe: Ich bringe Menschen Kung-Fu näher – die Sportart, die Kampfkunst, die Philosophie, die Lebensweise.

In Kreuzberg, in der Nähe des Görlitzer Bahnhofs, ist mein kleines Studio in unserer Wohnung. Dort biete ich individuell gestaltete Kurse an oder Gruppenunterricht. Es läuft ganz gut.

Klar könnte ich mehr Schüler haben, aber ich möchte mich nicht beklagen. Immerhin kann ich derzeit nicht allzu häufig trainieren, denn an fünf Tagen pro Woche lerne ich Deutsch. Ich stehe früh auf, und los geht’s!

Ich bin sehr ambitioniert – ich möchte meine Zeit hier in Berlin nicht vertun. Ganz oben auf meiner Liste steht, die Sprache zu erlernen. Ich habe schon einige Kurse absolviert, mittlerweile habe ich das Sprachniveau B 1 erreicht. Ich bin also auf einem guten Weg.

Warum ausgerechnet Kung-Fu? Nun ja, es ist nicht nur eine Kampfkunst, sondern eine Lebensweise, das hat mich von Beginn an gereizt.

krav maga Ich bin 32 Jahre alt, ich weiß gar nicht mehr, wann genau ich angefangen habe, mich mit Kampfsport zu beschäftigen, aber als Trainer habe ich in Israel schon 2007 gearbeitet und auch als Instrukteur in einem Fitnessstudio. Ja, ich bin ziemlich sportinteressiert.

Dabei hatte ich nicht vor, Trainer zu werden, es ist mir sozusagen zugestoßen – ich war selbst ein Schüler, und irgendwie war es dann so eine Entwicklung, und ich war selbst in der Rolle, vor Schülern zu stehen.

Es ist so, dass in Israel die Selbstverteidigungstechnik Krav Maga sehr populär ist, ich wollte aber etwas anderes machen, mich vielleicht auch abheben. Kung-Fu vereint in sich viele Elemente: Wenn man sich für Bewegungsabläufe und ihren Rhythmus interessiert, kann man sich für Kung-Fu begeistern. Wenn man zur Ruhe kommen und entspannen will, dann auch.

Auch Fitness-Fans kommen auf ihre Kosten. Ich denke, das ist für eine Kampfsportart einmalig. Aber natürlich möchte ich niemanden vor den Kopf stoßen – für den einen ist Kung-Fu das Richtige, und es macht Klick, so wie in meinem Fall, und der andere entscheidet sich eben für Karate.

kontrast Ich genieße es, dass ich keinen Vorgesetzten habe, in keinem Verein trainiere und für keine Organisation arbeite. Trotzdem bin ich nicht mein eigener Chef. Das Wort Chef in dem Zusammenhang vermeide ich lieber. Das klingt so, als wäre ich frei und hätte keine Verpflichtungen. Das stimmt so nämlich nicht. Meine Schüler sind meine Schützlinge, ich versuche, mich um sie zu kümmern, und bin ihnen verpflichtet.

Manchmal wünsche ich, ich könnte tun, was ich will. Aber so läuft das eben nicht. Niemand kann wirklich tun, was er möchte, auch wenn der Eindruck entstehen kann, dass das für einige Menschen gilt. Gerade in einer Stadt wie Berlin ist Rücksicht geboten. Hier leben viele unterschiedliche Menschen.

Das mag ich sehr, diesen Kontrast, den es wahrscheinlich in jeder großen Stadt gibt – zum einen dieses lockere, anarchische und knallbunte Berlin, das hin und wieder langsamer zu funktionieren scheint als der Rest der Stadt, und zum anderen ein hektisches Berlin – es gibt hier ja auch den politischen Betrieb und Geschäftsmänner und Anzugträger.

Die Größe der Stadt haut mich immer noch um, die einzigen Städte, die noch größer sind, die ich bisher besucht habe, sind London und Istanbul. Auch toll, aber Berlin ist eben cooler. Abgesehen von allem, was die Stadt ausmacht und was ich an ihr mag, für mich war es praktisch, nach Berlin zu ziehen.

sprache Ich hatte bereits Verbindungen hierher in Bezug auf meine Arbeit. Freunde und Bekannte hatte ich auch. In der Stadt leben so viele Israelis, es wäre beinahe schon merkwürdig, hierherzuziehen und niemanden zu kennen.

Mein Gruppentraining findet normalerweise abends statt. Bis dahin heißt es: Deutsch lernen. Oder ich trainiere allein, schließlich muss ich mich in Sachen Kung- Fu auch weiterbilden.

Ich versuche, mir einen gewissen Alltag zu bewahren, einen Wechsel von Trainingseinheiten und anderen Beschäftigungen, Essen oder Einkaufen. So habe ich es auch schon in Tel Aviv gehandhabt.

Deutsch habe ich dort zwar schon gelernt, aber nicht so intensiv, dafür habe ich mehr gearbeitet. Die Sprache ist nicht leicht zu lernen, sie ist sehr speziell, die Grammatik ist kompliziert, aber ich mag Herausforderungen. Es gibt viele spezielle Worte für bestimmte Dinge.

gefühle Dass ich recht spät angefangen habe, Deutsch zu lernen, ist nicht schlimm. Englisch habe ich auch spät angefangen zu sprechen, zwar hatte ich Englischunterricht in der Schule, aber damals ist das alles so an mir vorbeigezogen, und ich habe die Sprache nicht angewandt.

Ich denke, es ist kein großes Problem, wenn jemand keine Vorkenntnisse hat oder wie alt jemand ist. Auch kleine Schritte führen zum Ziel. Wenn man etwas will, kann man es schaffen. Das gilt für das Erlernen von Sprachen wie für Kung-Fu gleichermaßen.

Kung-Fu ist auch eine Sprache, so wie Tanz. Alles, womit man etwas Bestimmtes ausdrückt, ist eine Sprache. Kung-Fu ist nicht bloß ein System oder ein Werkzeug. Es geht darum, ähnlich wie bei einer Sprache, sich und seine Gefühle auszudrücken.

geschichte Was mich hin und wieder selbstverständlich beschäftigt, ist die deutsche und die deutsch-jüdische Geschichte. Als Israeli und als Jude kommt man in Berlin nicht gänzlich darum herum.

Ich denke, einerseits ist Deutschland heute ein anderes Land als damals. Andererseits ist es so einfach aber auch nicht – immerhin ist es ja das gleiche Land. Ich bin vorsichtig und diplomatisch in Sachen Geschichte.

In jedem Fall bin ich positiv, ich fühle mich wohl hier, Deutschland ist weltoffen, und ich glaube, nie wieder wird so etwas wie in der Vergangenheit von Deutschland ausgehen. Ich bin übrigens davon überzeugt, dass die meisten Israelis, genau wie ich, Deutschland in erster Linie als das Land sehen, das es heute ist, und erst dann an die Geschichte denken.

familie Meine Eltern zum Beispiel – meine Familie mütterlicherseits stammt aus Polen, mein Vater ist in Israel geboren, seine Familie ist russisch und polnisch – hatten keine Probleme damit, dass ich nach Deutschland ziehe, es gab keine Diskussionen.

Natürlich haben wir über meinen Umzug gesprochen, aber unsere Gespräche waren vor allem davon geprägt, dass es eine große, wichtige Entscheidung ist, woanders leben zu wollen. Ich hatte noch nie zuvor in einem anderen Land außer Israel gelebt. Für mich ist es ein Abenteuer, in Deutschland zu sein und hier meinen Alltag zu meistern.

Mit meiner Entscheidung gingen tiefgreifende Veränderungen einher: Sprache, Arbeit, alles ist anders. Aber so ist das eben, ich habe mich in dieses Abenteuer gestürzt, und ich wachse daran.

Ich habe meine Komfortzone verlassen und werde nun täglich vor Prüfungen gestellt. Hinzu kommt, dass meine Familie und ich nun physisch voneinander getrennt sind. Das ist schwierig, wir sind uns sehr nahe. Trotzdem war es die richtige Entscheidung herzukommen.

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