Die Goethe-Universität Frankfurt und die Jüdische Akademie haben sich entschieden, einen Kooperationsvertrag zu unterzeichnen, der ihr Interesse an gemeinsamen thematischen Schwerpunkten in Forschung, Lehre und Vermittlung zum Ausdruck bringt.
Dieser Wunsch resultiert aus der tiefen Überzeugung, dass die Auseinandersetzung um wissenschaftliche, politische, pädagogische sowie ethische Standpunkte und Orientierung wesentlich zur Stärkung einer liberalen und pluralen Gesellschaft beiträgt.
Die Jüdische Akademie soll ein Zentrum der Auseinandersetzung mit jüdischer Geschichte und Religion werden sowie aktuelle Debatten aufgreifen und bereichern – in Forschung, akademischer Lehre und Interaktion mit der Gesellschaft.
Deshalb haben die Goethe-Universität und die Jüdische Akademie eine »institutionelle Kooperation im Sinn einer dauerhaften und regelmäßigen wissenschaftlichen Zusammenarbeit« vereinbart, wie es im Vertrag heißt.
Mit ihrem Sitz in der Metropole Frankfurt am Main wirkt die Jüdische Akademie als intellektueller Mittel- und Anziehungspunkt sowohl für Juden aus Deutschland und Europa als auch für Mitglieder anderer Religionsgemeinschaften, die an jüdischen, interkulturellen, interreligiösen oder universellen Fragestellungen interessiert sind.
Die Akademie will der jüdischen Stimme in Deutschland ein erkennbares Profil geben.
Verbundforschung stärken
Der in Frankfurt unterzeichnete Vertrag nennt als »strategische Ziele und Handlungsfelder« die Fortsetzung bestehender sowie die Anbahnung weiterer Kooperationen, um neue Forschungsfragen und -perspektiven auch aus transdisziplinärer Sicht bearbeiten und Diskurse bereichern zu können.
Zudem sollen Verbundforschung und Kooperationen mit Orientierung an der internationalen Spitzenforschung, das gemeinsame Einwerben von Fördermitteln und die gegenseitige Unterstützung bei der Gewinnung von Partnern gestärkt werden.
Die Jüdische Akademie wird wissenschaftliche, gesellschaftspolitische und kulturelle Diskurse aufgreifen, initiieren oder problematisieren und damit der jüdischen Stimme in Deutschland ein erkennbares Profil geben.
Abgeleitet aus der Geschichte und den Herausforderungen der Gegenwart ergeben sich wegweisende wissenschaftliche Perspektiven. Neues Wissen, das durch Synergien des religiösen, bürgerlichen und akademischen Miteinanders zustande kommt und auf die Gesellschaft ausstrahlt, bedarf verlässlicher Strukturen – auch im Sinn von exzellenter und international anschlussfähiger Forschung. Gerade im Zeitalter der Globalisierung geht es darum, kulturelle und religiöse Pluralität als Chance wahrzunehmen, die die Zukunftsdebatte bereichert.
Die wissenschaftliche Kooperation zwischen der Goethe-Universität und der Jüdischen Akademie des Zentralrats der Juden in Deutschland bietet dafür einen sehr guten Raum, den der Frankfurter Kontext in besonderer Weise ermöglicht, da zahlreiche Institutionen in der Stadt die jüdische Geschichte erforschen und erinnern beziehungsweise ihren Beitrag zur jüdischen Gegenwart leisten.
Die Zusammenarbeit soll darüber hinaus ein Meilenstein für ein interdisziplinäres Forschungsnetzwerk sein, das Wissen für die gesellschaftliche Entwicklung, Nachhaltigkeit und Gerechtigkeit im 21. Jahrhundert generiert und damit Zukunftsfähigkeit schafft.
Bedarf nach politischer, kultureller oder religiöser Orientierung
Mit der Einwanderung von über 200.000 Juden aus der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland seit Ende der 80er-Jahre des vergangenen Jahrhunderts gehört die jüdische Gemeinschaft in Deutschland zu den zahlenmäßig größten in Europa. Mit der gewaltigen Herausforderung für die jüdischen Zuwanderer, sich in die Gesellschaft und in den jüdischen Gemeinden zu integrieren, wächst auch deren Bedarf nach politischer, kultureller oder religiöser Orientierung.
Akademien dienen grundsätzlich dem Ziel der öffentlichen Auseinandersetzung mit unterschiedlichen weltanschaulichen oder religiösen Perspektiven, mit Vertretern und Vertreterinnen der Wissenschaft, Politik, Kunst und der Kultur.
Dabei haben Akademien zugleich die Aufgabe, Fragen und Probleme, die in Verbänden, Institutionen oder Parteien aufgrund ihrer Brisanz noch nicht entscheidungsreif sind, im Vorfeld zu diskutieren beziehungsweise einen Raum für kontroverse Debatten zur Verfügung zu stellen.
Die Goethe-Universität Frankfurt und der Zentralrat der Juden in Deutschland haben vor diesem Hintergrund bereits am 17. Mai 2022 ein Memorandum of Understanding unterzeichnet, auf dessen Grundlage seither eine Reihe von gemeinsamen Aktivitäten unternommen und ein umfassender Austausch stattgefunden hat.
An Traditionen anknüpfen
Mit der Kooperation knüpfen wir an eine reiche Tradition der Universitätsgeschichte ebenso an wie an zahlreiche Kooperationen der Gegenwart. Als Gründung aus der Stadtgesellschaft für die Stadt und die darüber hinaus gehende Gesellschaft verdankt die Universität ihre Existenz auch und gerade den jüdischen Bürgern, die 1914 zu den Gründern der Stiftungsuniversität zählten. Auch heute richtet die Uni einen starken Fokus auf die jüdische Religionswissenschaft.
Franz Rosenzweig gründete Anfang der 1920er-Jahre das Freie Jüdische Lehrhaus, das viele Berührungspunkte mit der Frankfurter Universität hatte. Auch heute richtet die Universität einen starken Fokus auf die jüdische Religionswissenschaft, -philosophie und Judaistik, aber auch auf über die Grenzen der Religion hinausgehende Themen wie Dynamiken des Religiösen, Erinnerungskulturen oder »Erziehung nach Auschwitz«, um nur einige Beispiele zu nennen.
In diesem und dem vorangegangenen Semester haben die Jüdische Akademie und die Universität eine Ringvorlesung »Antisemitismus. Erinnerungskultur. Demokratie.« veranstaltet – auch mit Blick auf die seit dem Überfall der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 sichtbar gewordene Geschichtsvergessenheit.
Mit Zuversicht und Engagement blicken die Vertragspartner auf eine Fülle von Möglichkeiten einer intensiven wissenschaftlichen Zusammenarbeit, die generationenübergreifende Spuren hinterlassen und für die jüdische Existenz in Deutschland nachhaltige und erkennbare Zeichen setzen wird.
Der Autor ist Gründungsdirektor der Jüdischen Akademie und wissenschaftlicher Direktor der Bildungsabteilung des Zentralrats der Juden in Deutschland.