Mit einem herzlichen »Schalom« begrüßt Elieser Zavadsky die Gäste in seiner Wohnung in einem Mehrfamilienhaus in Berlin-Schöneberg. Er bittet freundlich herein, im Wohnzimmer ist genügend Platz. Bei einer Tasse grünem Tee lässt es sich besser unterhalten. »Sitzen Sie bequem? Brauchen Sie noch etwas?«, fragt Elieser, der neben seiner Frau Chavah Stenger auf dem Sofa Platz genommen hat. Alles in Ordnung, das Setting stimmt. Das Gespräch kann beginnen.
Auf diesen Moment hat sich Elieser lange vorbereitet – der 56-Jährige hat sich vorgenommen, mit seiner Geschichte an die Öffentlichkeit zu gehen. Er will sprechen, nicht länger schweigen. Elieser möchte die Geschichte seiner Familie, seiner Großeltern und Eltern erzählen, und er möchte – nein, muss – von den Schatten erzählen, die ihn seit seiner frühesten Kindheit bis heute begleiten. Es sind die Schatten von Auschwitz, der industrialisierten Todesfabrik der Nationalsozialisten.
FAMILIENGESCHICHTE Elieser, der gebürtige Israeli, und Chavah, die gebürtige Argentinierin, sind seit vielen Jahren in Berlin ein Paar. Hier haben sie sich kennengelernt. Beide sind Kinder von Eltern, die die Schoa überlebten. Physisch überlebten, wie Elieser sagt. »Mein Vater und meine Mutter stammten aus jüdischen Familien in Polen, und obwohl sie den Holocaust überlebt haben, hat er sie ihr ganzes Leben lang begleitet«, sagt Elieser, nun ziemlich aufgewühlt.
Sein Vater hat als Einziger aus seiner Familie überlebt. Er war im Ghetto Lodz, in verschiedenen Arbeitslagern, im Vernichtungslager Auschwitz und wäre um ein Haar während des Todesmarsches vollkommen entkräftet von einem Wehrmachtsoffizier erschossen worden, hätte ihn ein Freund nicht ein Stück getragen und auf einen vorbeifahrenden Lkw gehievt. Seine Mutter überlebte, da sie als kleines Mädchen allein aus einer Wohnung in Krakau, in der sie sich mit ihrer Mutter und ihrem Bruder versteckte, durch das Fenster flüchtete, als die Gestapo kam.
»Wir sind wie Bäume, die keine Wurzeln haben.«
Elieser Zavadsky
Diese Geschichten begleiten Elieser, seit er ein kleiner Junge war. Und das nicht, weil seine Eltern mit ihm viel über die Vergangenheit gesprochen hätten. »Ich erinnere mich noch gut an den Moment, als der Holocaust zum ersten Mal in mein Leben trat«, sagt er. Elieser war damals vier Jahre alt. Sein Vater hatte ihn gerade vom Kindergarten in Bnei Brak bei Tel Aviv abgeholt und nach Hause gebracht. »Meine Mutter bekam plötzlich keine Luft mehr, sie trampelte mit den Füßen und schlug mit den Armen wild um sich.« Es war eine Panikattacke, wie er heute weiß. Ausgelöst durch seine ältere Schwester, die in der Wohnung als lebhaftes Kind herumgerannt war und Krach gemacht hatte.
»Wir haben als Kinder früh gelernt, ruhig und immer artig zu sein, um unsere Eltern nicht zu verärgern«, erzählt Elieser. »Wir mussten früh Verantwortung für unsere Eltern übernehmen und für sie stark sein, denn sie waren durch die Vergangenheit gebrochen.« Mit »Wir« meint er seine beiden Geschwister und sich – und spricht doch stellvertretend für viele Nachkommen von Schoa-Überlebenden, die mit ihren hochtraumatisierten Eltern großgeworden sind und dadurch selbst traumatisiert wurden.
Dieses spezifische Trauma der zweiten Generation der Überlebenden beschreibt Elieser mit einem Bild: »Wir sind wie Bäume, die keine Wurzeln haben.« Viele Menschen, auch in Israel, wüssten das nicht und hätten keine Vorstellung davon. »Die Schoa hat für uns nicht 1945 geendet.«
GEDICHTE Elieser hat darüber in Israel schon ein Buch geschrieben, zudem mehrere Gedichte. Jetzt will er sprechen. Auch Chavah will das. Deshalb haben sie in Berlin zusammen die Gruppe »Die Zweite Generation erzählt« ins Leben gerufen. Die Gruppe soll ein Anlaufpunkt für Nachkommen sein, ein Zusammenschluss mit Raum für Austausch. Aber nicht nur das. »Wir wollen die Gesellschaft für die Traumata der zweiten Generation von Überlebenden des Holocaust sensibilisieren und das Thema präsenter machen«, sagt Elieser, der vor 22 Jahren wegen seiner damaligen Frau nach Berlin kam und seitdem in Deutschland lebt.
Eines sei für alle Mitglieder ihrer Generation gleich, ergänzt Chavah. »Die Vergangenheit hat unser Leben immer mitbestimmt«, sagt sie. Chavah ist 1962 in der Provinz Misiones in Argentinien geboren. Dorthin war ihr Vater, ein gebürtiger Berliner aus Schöneberg, 1936 ausgereist – nicht wissend, dass er seine zurückgebliebenen Familienangehörigen nie wiedersehen würde. Zuvor hatte er im brandenburgischen Ort Neuendorf im Sande eine landwirtschaftliche Ausbildung bekommen, die ihm die Ausreise ermöglichte.
Der Vater wollte die Kinder nicht belasten.
In Argentinien ist ihr Vater nie richtig angekommen, erzählt Chavah. »Zeitlebens litt er unter Verfolgungsangst. Das hat auch auf uns abgefärbt.« Diese Angst wurde auch nicht besser, als er in den 60er-Jahren des Berufs wegen wieder nach Berlin gekommen ist und ein paar Jahre später Chavah und ihre fünf Geschwister in die Bundesrepublik geholt hat. Der Familiennachzug hatte gedauert, da ihr Vater nichts mit den bundesdeutschen Ämtern zu tun haben wollte. Er war ihnen gegenüber skeptisch eingestellt wegen der Vergangenheit. »Eigentlich konnte und wollte er nicht für längere Zeit in Deutschland bleiben, aber die ökonomischen Begebenheiten zwangen ihn dazu«, erzählt Chavah.
Über die Schoa habe ihr Vater nie gesprochen. Er wollte stark sein für seine Familie, und er wollte nicht, dass seine Kinder im Schatten der Vergangenheit lebten. Doch man habe ihm angemerkt, dass ihn die Geschichte belastete, sagt Chavah. Vor allem, nachdem er frühberentet wurde und mehr Zeit für sich hatte. »Ich denke, dass dann die Erinnerungen wieder stärker hochkamen.«
BAUM Ihr Vater ist 2001 in Berlin gestorben und wurde auf dem jüdischen Friedhof in Weißensee beigesetzt. Chavah wird an ihn erinnern, wenn sie am 29. August zusammen mit Elieser und anderen Vertretern der Gruppe »Die Zweite Generation erzählt« nach Neuendorf im Sande in den Landkreis Oder-Spree fährt. Der zivilgesellschaftliche Verein »Zusammen in Neuendorf« hat sie zu einer Gesprächsveranstaltung eingeladen. Dabei wollen sie auch den Gutshof besichtigen, auf dem ihr Vater damals arbeitete. Auch ein Baum der Erinnerung soll gepflanzt werden.
»Wenn wir mit anderen Menschen über unsere Traumata sprechen, ist das für uns ein Stück weit Ausdruck von Tikkun Olam«, sagt Chavah mit Blick auf die Mizwa, »die Welt zu reparieren«. Denn eine der zentralen Lehren aus den Kindheitserfahrungen ihrer Generation ist: So etwas wie in der Vergangenheit darf niemals wieder geschehen.