Man kann meine Situation so beschreiben: Ich bin gerne in der jüdischen Gemeinde und habe zusammen mit dem Rabbiner eine Reihe von Filmen produziert. Ich bin glücklich und habe meinen Platz unter der Sonne gefunden. Das ist die eine Wahrheit. Die andere: Ich bin ganz unzufrieden. Ich wohne seit elf Jahren hier und habe bis heute keinen Arbeitsplatz gefunden. Ich bekomme ALG II. Es reicht fürs Essen, ich habe eine kostenlose Wohnung. Die ganze Wahrheit ist irgendwo dazwischen.
Firma Vor elf Jahren bin ich nach Deutschland gekommen. Fast bis zum letzten Tag war ich beschäftigt, dachte immer, ohne mich geht’s nicht. Ich hatte eine eigene Firma und immer viel zu tun. Plötzlich, als ich nach Deutschland kam, musste ich zwei einfache Dinge verstehen. Erstens: Hier spricht man Deutsch, meine Sprachkenntnisse waren aber sehr gering. Und zweitens: Mit 46 ist alles vorbei, für Ausländer wie mich auf jeden Fall.
Ich stamme aus der Ukraine, aus Saporoschje. Das liegt 600 Kilometer südlich von Kiew und ist fast eine Millionenstadt. Dort habe ich die Schule besucht und bin auf eine Fachhochschule gegangen. Dann habe ich als Lehrer für Psychologie in einer pädagogischen Ausbildungsstätte gearbeitet. Die letzten acht Jahre hatte ich eine eigene Firma.
Im Juni 1999 kam ich mit meiner Frau nach Langenfeld bei Düsseldorf. Im benachbarten Hilden fanden wir eine Wohnung. Zwei Wochen nach meiner Ankunft war ich bereits Mitglied der jüdischen Gemeinde. Ich dachte damals und denke das bis heute: Da ich als Jude nach Deutschland gekommen bin, sollte ich auch Mitglied der jüdischen Gemeinde sein.
In der ersten Zeit war ich vielleicht einmal im Jahr dort. Aber dann, 2004, kam ich ins Seniorenzentrum mit dem Vorschlag, einen Film über das Haus zu machen. Die Idee wurde aufgegriffen, und ich habe dann einige Wochen lang verschiedene Veranstaltungen aufgenommen. Am Ende war eine 15-minütige Dokumentation entstanden, die dann auch gezeigt wurde.
Der Vorstand fand das damals ebenfalls interessant. Und so durfte ich eine neue Kamera kaufen. Die nächsten Filme über die Gemeinde selbst, über Bräuche und Traditionen habe ich dann gemeinsam mit Rabbiner Michail Kogan gemacht. Durch solche Filme kann man viel vermitteln an Atmosphäre und Informationen. Seit der Finanzkrise ist diese Aufgabe leider in den Hintergrund gerückt.
Begegnungscafé Aber ich bin immer noch zwei oder drei Mal pro Woche in der Gemeinde und besuche verschiedene Veranstaltungen. Einmal im Monat moderiere ich den Tanzabend. Außerdem arbeite ich ehrenamtlich in der Sozialabteilung. Ich begleite Mitglieder der Gemeinde in einem Begegnungscafé für NS-Verfolgte, biete Gratis-Stadtführungen an und helfe bei alltäglichen Dingen wie der Suche nach einem geeigneten Strom- oder Telefonanbieter.
Ich sehe kein russisches Fernsehen, meine Frau hingegen schon. So oft es geht, versuche ich, mich mit Deutschsprachigen zu unterhalten, und, Gott sei Dank, habe ich zwei, drei gute Bekannte. Ich schaue deutsches Fernsehen, weiß Bescheid über die hiesigen Parteien und die Politik. Aber das ist zu wenig, um sich hier zu Hause zu fühlen. Es ist vor allem die russische Sprache, mit der ich irgendetwas unternehmen kann. Seit einiger Zeit arbeite ich mit einem russischen Reisebüro zusammen und biete Stadtführungen auf Russisch an.
Ich reise sehr gern. Mittlerweile habe ich Hunderte Städte besucht, vor allem in Deutschland: Aachen, Monschau, Bonn, Köln, Soest, Solingen, Königswinter, Mainz sind nur einige Beispiele. Von Düsseldorf aus kommt man auch schnell nach Lüttich, Maastricht, Amsterdam oder Brüssel. Ich stöbere vorher im Internet und suche vornehmlich Orte, die höchstens 300 Kilometer entfernt sind, damit ich nicht übernachten muss. Oft mache ich diese Fahrten mit meiner Frau, sie bekommt dann eine Führung vor Ort.
Ganz wichtig auf diesen Reisen ist meine Fotokamera. Mittlerweile habe ich Tausende Bilder aufgenommen. Es gibt bestimmt 12.000 bis 14.000 Fotos von mir im Internet. Ich schreibe auch Berichte über diese Tagesausflüge und stelle sie online. Inzwischen ist meine Webseite gut besucht. Manchmal werden mir dort verschiedene Fragen gestellt, ob ich Tipps geben könnte, das mache ich gern.
Meine Oma hatte mir, als ich zehn oder elf war, eine Kamera geschenkt. Seitdem beschäftige ich mich mit dem Fotografieren. Als ich dann eine Digitalkamera hatte, verstand ich sofort: Es gibt keine Grenzen. Wenn ich vorher 20 Aufnahmen gemacht habe, sind es jetzt zwei- bis dreihundert. Und dann sortiere ich und bearbeite sie.
Computer Mit 49 Jahren habe ich angefangen, mich mit Computern zu beschäftigen und sie zu nutzen. Bei einem Weiterbildungskurs gab es auch PC-Unterricht, ansonsten habe ich mir vieles selbst beigebracht, zu Hause und in der Gemeinde am Computer. Schritt für Schritt. Heute bin ich zwar kein Programmierer, aber ein erfahrener User. Ich kenne mich gut aus. Meine Filme lade ich auf RuTube hoch, das ist die russische Variante von YouTube.
Im Laufe der Jahre bin ich ein Patriot von Deutschland geworden. Fast jeden Tag bewege ich mich auf verschiedenen Foren, wo sich russischsprachige User im Internet austauschen. Man erzählt über Italien, über die Schweiz, über Spanien. Ich schreibe immer: Deutschland steht für mich auf Platz Eins. Warum, ist schwer zu erklären. Ich mag die Ordnung, die Architektur, die Autobahnen. Und ich bin begeistert, wie viel Aufmerksamkeit man hier der eigenen Geschichte beimisst. Mit Eifer wird Historisches erhalten und vermittelt. Das betrifft auch den Holocaust. Hier gibt es viele Mahn- und Gedenkstätten, die darüber informieren. In gewisser Weise macht das schon auch einen besonderen Eindruck auf mich.
Sehnsucht nach der Ukraine habe ich nicht. Elf Jahre bin ich schon hier und war niemals wieder dort. Meine Eltern sind leider schon gestorben, mein Sohn wohnt in Amerika, meine Schwester in Israel. Hier in Deutschland ist momentan meine Heimat, oder eher gesagt, ein Platz, wo ich mich wohlfühle. Das genügt.
Bräuche Auch wenn ich in den vergangenen Jahren eine Menge über die jüdische Religion gelernt habe, bin ich Gott doch nicht viel näher als früher. Ich kam mit fast 50 Jahren nach Deutschland und hatte vorher keinen Bezug zur Religion. In der Ukraine war ich nicht ein Mal in einer Synagoge. Ich verstehe mittlerweile, um was es geht, kenne die Bräuche und Traditionen, besuche die Synagoge. Das ist wunderbar. Zum Beispiel war früher Rosch Haschana ein leerer Begriff für mich, heute ist es ein Fest. Ich rufe meine Verwandten an, in Israel und in Amerika, und verstehe, dass es für Millionen von Juden ein Grund zur Freude und zum Feiern ist.
Ich verheimliche nie, dass ich Jude bin. Ich trage einen Ring mit Davidstern, auf den bin ich schon oft angesprochen worden. Ich bin sehr dankbar, dass es die Gemeinde gibt und dass die Möglichkeit besteht, in die Synagoge zu gehen. Das ist fantastisch. Ich bin unterwegs zum jüdischen Gott. Aber ich befinde mich erst am Anfang des Weges.
Aufgezeichnet von Annette Kanis.