Brandenburg

Rabbis Reisen

Lässiger Wintermantel, sportliches Basecap und grauer Schal – Shaul Nekrich fällt im Berliner Regionalzug nicht weiter auf. Der 31-Jährige mit Vollbart, modischer Brille und ruhigem Blick könnte einer der Lehrer, Geschäftreisenden oder Wissenschaftler im Abteil sein, die die Fahrt nutzen um zu arbeiten.

Er vertieft sich in eine englische Broschüre, telefoniert auf Russisch und Hebräisch, sortiert Unterlagen, schaut mal auf die Uhr und rückt sich die Mütze zurecht. Noch eineinhalb Stunden bis Frankfurt/Oder. Dort warten die Mitglieder der jüdischen Gemeinde gespannt auf den Landesrabbiner von Brandenburg.

Frankfurt ist nur der Anfang einer ganzen Reihe von Antrittsbesuchen. Sechs Gemeinden soll Nekrich in den kommenden 18 Monaten betreuen. Auch die in Cottbus, Bernau, Oranienburg, Königs Wusterhausen und in der Stadt Brandenburg. Eine große Aufgabe, fast überall fehlt es an Rabbinern, Kantoren, Bildungsprogrammen –und jungen Gemeindemitgliedern.

Stimmung Doch bevor sich der 1979 in St. Petersburg geborene und in Israel ausgebildete Rabbiner ausschließlich seinem Job widmen konnte, geriet er auch schon in die Schlagzeilen. In einem Interview mit der Potsdamer Tageszeitung Märkische Allgemeine wurde Nekrich Anfang Januar mit den Worten zitiert, er gäbe sich in Brandenburg lieber nicht als Jude zu erkennen.

Es folgten Berichte über die antisemitische Stimmung in Deutschland und über einen Zwischenfall in einem Regionalzug, bei dem ein junger Mann Nekrichs Gebetsbuch auf den Boden geworfen habe. Sogar Ministerpräsident Matthias Platzeck (SPD) überraschte die Kritik. Und Wissenschaftsministerin Martina Münch (SPD) bat den jun- gen Mann zu einem Gespräch über »reale Probleme und seine Wahrnehmungen«.

Dabei wollte Nekrich nach eigenem Bekunden nur deutlich machen, dass Berlin für erkennbare Minderheiten insgesamt sicherer sei als bestimmte Teile Brandenburgs. »Ich finde es beängstigend, wie rasch man missverstanden werden kann«, kommentiert er die Berichterstattung, räumt aber auch ein: »Andererseits lernt man hinzu.« Grundsätzlich entscheide aber jeder Rabbiner selbst, wie er sich in der Öffentlichkeit zu erkennen gebe, betont Nekrich. Er hat sich für das Basecap entschieden.

Integration An diesem Schabbat steht Shaul Nekrich allerdings mit Kippa vor dutzenden Frauen und Männern, die in einem Altbau am Kleist-Park auf den Gottesdienst warten. Die meisten sind feierlich gekleidet.

jerusalem Viele kommen aus der ehemaligen Sowjetunion, haben kleinere oder größere Probleme, sich zu integrieren und suchen vor allem einen Zugang zur jüdischen Tradition. »Für mich ist noch so vieles ungewohnt«, sagt Juri, ein älterer Herr, der mit seiner Frau Irina aus Usbekistan stammt. »Noch in Taschkent haben wir versucht, Hebräisch zu lesen und Tora-Abschnitte zu verstehen. Doch wenn du nicht mehr jung bist, dann brauchst du Hilfe und Anleitung.«

Tuchfühlung Rabbiner Nekrich hört den Mitgliedern aufmerksam zu und nimmt so langsam Tuchfühlung mit der Gemeinde auf. Das kommt gut an im provisorisch eingerichteten Synagogenraum, in dem Jerusalem-Fotos die Wände zieren. Weiter hinten stehen filigrane Holzmodelle des Ersten und Zweiten Tempels. Der Rabbiner intoniert kräftig das Schabbatlied »Lecha Dodi«.

Eher zögerlich stimmen Beterinnen und Beter ein. Nekrich hat an diesem Abend viel vor: Er möchte über Emigration, Angst, Mut und Rettung sprechen. Ein Thema, das ihn bewegt. Denn auch er hat in seinem Leben schon oft Courage gezeigt. Zum Beispiel, als er mit 16 Jahren nach Israel auswanderte, dort Informatik und Judaistik studierte, seine Frau in Jerusalem kennenlernte oder als er für eine Zeit in die USA ging.

Die kleine Gemeinde hört dem jungen Mann aufmerksam zu, als er ihr von Nachschon erzählt, dem Sohn eines Stammesfürsten, der ohne zu zögern bis zu den Schultern ins Wasser steigt, kurz bevor sich das Rote Meer teilt. Nachschon habe Mut bewiesen, »ich wünsche uns allen diesen Mut«. Männer und Frauen tauschen Blicke aus, flüstern sich auf Russisch zu. Später, beim Kiddusch, ist das Eis zwischen Gemeinde und Rabbiner gebrochen. Auch dank seiner Familie, die ihn zum Schabbat nach Frankfurt/Oder begleitet hat.

vision Während die beiden quirligen Töchter Schaindl-Judit und Hanna-Brocha durch den Raum toben, spricht Nekrich den Weinsegen, bricht die Challot und reicht sie mit feierlicher Geste weiter. »Kim herejn Schabbes«, klingt es schließlich vom Tischende. Es scheint, als hole man hier eine längst fällige Geburtstagsfeier nach. Ohnehin hat der junge Landesrabbiner eine Vision: »Wir wollen in Frankfurt schrittweise Studiennachmittage einrichten.«

Und seine Frau Debora hofft, bald einen Jugendgottesdienst organisieren zu können. »Wenn allerdings jemand kommt, um einfach nur die Schabbes-Atmosphäre mitzuerleben, Lieder zu singen und den Kiddusch zu genießen, dann ist das auch okay«, sagt Nekrich. Denn egal, in welcher Gemeinde Brandenburgs die kleine Familie zu Gast ist, eines steht im Mittelpunkt: Offenheit.

Das ist auch das Motto zu Hause, in Berlin-Mitte, wo sich Nekrichs – wie sie sagen – mittlerweile sehr gut eingelebt haben. »Unsere Küche ist das kleinste Restaurant im Kiez«, sagt Rebbezin Debora, während die 15 Monate alte Tochter Batsheva ihre ersten stolpernden Gehversuche unternimmt. Der Kiez, das ist die Gegend rund um die Brunnenstraße, wo sich die Yeshiva Beis Zion und das Café Rado befinden. Dort gehören orthodoxe Juden mit schwarzen Anzügen und Zizijot längst zum multikulturellen Straßenbild.

praxistest Von hier aus startet Rabbi Nekrich mehrmals wöchentlich ins Berliner Umland – mit der S-Bahn, dem Regionalzug oder im Überlandbus Richtung »Abenteuer Brandenburg«. Denn die Herausforderungen innerhalb der Gemeinden stehen für den Landesrabbiner an erster Stelle. Sooft wie möglich möchte er vor Ort sein und Hilfe anbieten.

Auch jenen im Land, deren Väter, nicht aber Mütter jüdisch sind und die daher nicht Gemeindemitglied werden können. »In Amerika und Israel bewährt sich bei dieser Gruppe schon längst das Gemeinschaftsprojekt ›Bnej Noachim‹. Ich denke, auch in Deutschland ist die Zeit reif dafür.« Von seinen praktischen Erfahrungen im jüdisch-brandenburgischen Alltag berichtet er regelmäßig im Berliner Rabbinerseminar.

Inzwischen wird Nekrich bei seinen Fahrten zwischen Havel und Oder von einigen Studenten begleitet. Sie telefonieren auf Russisch und Hebräisch, sortieren Unterlagen, schauen auf die Uhr und rücken sich die Kippot zurecht, die unter Basecaps versteckt sind.

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