Für einen Nachmittag wurde Bielefeld am Montag zur Hauptstadt des jüdischen Deutschland. Fünf Absolventen des Abraham Geiger Kollegs an der Universität Potsdam erhielten in der Bielefelder Synagoge Beit Tikwa ihre feierliche Amtseinführung. 350 Gäste, darunter Nordrhein-Westfalens Ministerpräsidentin Hannelore Kraft sowie zahlreiche Bundes- und Landtagsabgeordnete, klatschten begeistert, als die neuen Rabbiner Eli Reich, Sonja Keren Pilz, Alexander Grodensky und Natalia Verzhbovska ihre Ordinationsurkunden entgegennahmen.
Verzhbovska leitet seit dem 1. September als erste Frau seit der Schoa drei jüdische Gemeinden in Nordrhein-Westfalen: Köln, Unna und Oberhausen. Während der Perestroika zum Ende der Sowjetunion entdeckte die heute 47-jährige Kiewerin ihre Jüdischkeit.
In der liberalen Gemeinde der ukrainischen Hauptstadt fand sie ihre religiöse Heimat und Familie, obwohl sie die hebräischen Texte und Gebete dort anfangs nicht verstand. Sie heiratete den späteren Oberrabbiner der liberalen jüdischen Gemeinden in Russland, Alexander Lyskovoy, und ging mit ihm nach Sankt Petersburg, wo sie jüdische Religion unterrichtete. Gemeinsam ziehen beide jetzt nach Köln.
Gesellschaft Im liberalen Judentum sieht sie »einen Weg, das Leben in einer modernen Gesellschaft mit dem Glauben zu verbinden«. Für die Gemeinden in Deutschland wünscht sich die frisch ordinierte Rabbinerin »mehr Schalom«. Viele litten an inneren Konflikten. Sie wolle zur Versöhnung beitragen und mehr junge Leute für die Gemeindearbeit gewinnen. Junge Menschen sollten sich eine Weise suchen, »die ihnen Rat und Unterstützung gibt, wie ich sie am Abraham Geiger Kolleg gefunden habe«. Wichtigstes Element des Lernens und für ihr persönliches Wachstum sei es, »Fragen zu stellen und weniger Antworten zu geben«.
Rabbiner Walter Jacob, Präsident des Kollegs, nannte das Judentum ein Kaleidoskop: »Man kann es immer wieder schütteln, erneut hineinsehen und bekommt manchmal ein ganz neues, wunderschönes Bild.«
In diesem Sinne wählte Kantor Amnon Seelig für seine Investitur den Spruch »Wende es immer von Neuem, denn alles ist darin enthalten« (Sprüche der Väter 5,22) – auch Lebensformen, die in manchen Gemeinden wenig Verständnis finden. Der frisch ordinierte Rabbiner Alexander Grodensky hat in diesem Jahr seinen Lebenspartner geheiratet. »In liberalen Gemeinden ist das kein Problem«, versichert der groß gewachsene junge Mann mit dem klaren Blick.
Aufgewachsen ist er in Sankt Petersburg. 2006 ging er zum Studium nach Wien. Grodensky übernimmt die liberale jüdische Gemeinde im luxemburgischen 35.000-Einwohner-Städtchen Esch. »Die Menschen mögen sich in der Gemeinde«, hat Grodensky beobachtet. Eine Handvoll Mitglieder der 70 Familien zählenden Gemeinde ist nach Bielefeld gekommen, um ihren neuen Rabbiner in Empfang zu nehmen. Aus sieben Bewerbern hat ihn Luxemburgs einzige liberale Gemeinde ausgewählt. Ehemann Isak Schneider freut sich auf den Umzug ins Nachbarland. »Ich werd’ die Rebbeze von Esch«, sagt er lachend. Beide loben sie die positive Atmosphäre dort.
Schweden Eli Reich ist der älteste Absolvent in diesem Jahr. Er ist im schwedischen Göteborg aufgewachsen. Er studierte an der Bar-Ilan-Universität und am Jüdischen Theologischen Seminar in New York, der Hebräischen Universität Jerusalem und der Brandeis University in Boston sowie in Chicago unter anderem die Hebräische Bibel und Jüdische Philosophie. In den USA und Kanada unterrichtete er an mehreren Hochschulen Religiöse Studien. An der Beith Israel Synagoge in Indiana leitete er fünf Jahre lang eigene Gottesdienste.
Die vierte Rabbinerin im Bunde ist Sonja Keren Pilz. Sie studierte Judaistik, Islamwissenschaft und Psychologie in Freiburg, Jerusalem und Potsdam mit den Schwerpunkten Rabbinische Literatur und Liturgie. Seit vielen Jahren arbeitet sie in Gemeinden in der Schweiz und Deutschland. Hier fühlt sie sich genauso zu Hause wie in Israel. Ihre wissenschaftliche Karriere möchte sie fortsetzen. »Wohl dem Menschen, der stets sorgsam ist, wer aber sein Herz verhärtet, stürzt ins Unglück« (Sprüche 28,14) hat sie zu ihrem Ordinationsspruch gewählt.
Menschenliebe Für Abraham Lehrer, Vizepräsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, gelingt die Arbeit eines Rabbiners »nur mit einer großen Liebe zu den Menschen«. Landesrabbiner Henry G. Brandt erinnerte die Absolventen dabei an die »große Verantwortung«, die nun auf sie zukomme. Viele Gemeindemitglieder, aber »auch die Welt da draußen«, erwarten von den Rabbinern »geistige Führung: Es geht nicht um euch, sondern um die Gemeinden, die Menschen und das jüdische Volk«.
»Kol Israel Hawerim«, ergänzte Brandt und ließ keinen Zweifel an seiner Liebe zum Land der Väter. »Aber wir sind besorgt, wenn dort Dinge passieren, die an unser eigenes Schicksal erinnern«, nahm er Bezug auf Übergriffe wie den jüngsten Brandanschlag auf eine palästinensische Familie in Samaria. Religiöser Fanatismus habe mit der Tora nichts zu tun, »aber ihr als Rabbiner werdet immer wieder danach gefragt werden«.
Später erhoben sich die Gäste mit nachdenklichen Gesichtern im Gedenken an die Opfer der Schoa »und der Menschen, die im vergangenen Jahr auf der Flucht nach Europa umgekommen sind«. Diese Menschen, sagte Brandt, »sind auch unser Problem«.
»Ihr seid ein Teil von uns«, ließ Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow die Juden in Deutschland wissen. Als Mitglied des Rates der Leo-Baeck-Stiftung vertrat er den Träger des Abraham Geiger Kollegs. Er freue sich wie viele über den deutschen Exportschlager »Rabbis made in Germany«. Das jüdische Leben in Deutschland blühe wieder: Es sei »deutsche Kultur, die die Nazis vernichten wollten«. Angesichts brennender Flüchtlingsheime »müssen wir zusammenstehen«.
Irith Michelsohn, Vorsitzende der Gemeinde in Bielefeld und Geschäftsführerin der Union progressiver Juden (UpJ) in Deutschland, nannte die Feier in der Bielefelder Synagoge Beit Tikwa das zweitwichtigste Ereignis für ihre Gemeinde seit 1945. Das wichtigste war für sie die Eröffnung des neuen Gemeindezentrums und des Gotteshauses 2008. Die inzwischen rund 300 Mitglieder zählende Gemeinde wachse weiter. Unlängst habe sie sechs Flüchtlinge aus dem umkämpften Donbass aufgenommen.