Vor den berühmten Gräbern von Rabbi Meir von Rothenburg und Alexander ben Salomon Wimpfen macht jeder ehrfürchtig Halt, der den jüdischen Friedhof Heiliger Sand in Worms besucht, und gläubige Juden kennen auch das Tal der Rabbinen, wo der Maharil, Elia Loanz und andere berühmte Männer ruhen. Doch wer weiß schon, dass nur wenige Schritte davon entfernt der Grabstein von Bella aus dem Jahr 1086 steht? Sie war die Tochter Izchak haLevis, Raschis Lehrer, und somit auch die Zeitgenossin des berühmten Gelehrten, dessen Grab die Menschen immer wieder vergeblich auf dem Heiligen Sand suchen.
Ganz in der Nähe liegt Joel b. Meir haKohen (gest. 1140), der in der noch gut erhaltenen Grabinschrift als frommer Priester, als Spross aus einer Märtyrerfamilie infolge der Kreuzzugspogrome 1096 bezeichnet wird. Er ist höchstwahrscheinlich verwandt mit Meir b. Joel haKohen, dessen auffälliger Grabstein aus dem Jahr 1224 erst kürzlich ein überraschendes Geheimnis preisgab. Der hier Beerdigte kann niemand anderes sein als der Stifter der Frauensynagoge (1213), denn der Stein bildet unter anderem das romanische Portal des Baus ab.
Entzifferung Herausgefunden hat diese Details Michael Brocke, Direktor des Salomon-Ludwig-Steinheim-Instituts in Duisburg, und das ist längst nicht alles. Seit sich Worms entschlossen hat, gemeinsam mit den Städten Mainz und Speyer, den sogenannten SchUM-Gemeinden, einen Antrag auf Weltkulturerbe zu stellen, arbeitet der Judaist im Auftrag von Stadt und Landesdenkmalpflege mit zwei Kollegen intensiv an der Entzifferung der Epitaphien auf dem Heiligen Sand.
Welchen unschätzbaren Informationswert dieses »steinerne Archiv«, wie Brocke es nennt, besitzt, erkannte bereits der Wormser Prediger Ludwig Lewysohn, der 1855 ein Buch mit der Beschreibung von 60 Erinnerungsmale veröffentlichte. 1899 führten Kantor Julius Rosenthal und der Lehrer Samson Rothschild diese Arbeit fort und entzifferten mehr als 1.000 Inschriften im älteren Friedhofsteil. Leider war die Erfassung nicht vollständig und fehlerhaft. So blieb viel zu tun übrig.
Michael Brocke arbeitet gegen die Zeit. Viele Grabmale sind tief in der Erde versunken. Was geblieben ist, ist im Laufe der Jahrhunderte verwittert, oft ist die Schrift zerstört. Das Steinheim-Institut hat den alten Friedhof vollständig neu kartiert, die Grabsteine fotografiert, beschrieben und mit Unterstützung des Interdisziplinären Zentrums für Wissenschaftliches Rechnen (IWR) der Uni Heidelberg den Versuch unternommen, schlecht lesbare Inschriften im modernen 3-D-Verfahren abzuscannen. Um die wissenschaftliche Bearbeitung und Dokumentation zu finanzieren, engagieren sich die Stadt Worms, der Altertumsverein, der Verein Warmaisa, Unternehmen und Privatpersonen.
Patenschaften Und sie sammeln nicht nur Geld. So organisierten kürzlich die jüdische Gemeinde und der Verein Warmaisa im Rahmen der Jüdischen Kulturtage eine Friedhofsführung der besonderen Art. Prominente Wormser, allen voran Oberbürgermeister Michael Kissel, hatten sich Grabsteine aus verschiedenen Jahrhunderten ausgewählt und erzählten auf ganz persönliche Weise, was sie damit verband.
So schilderte Kissel die außergewöhnliche Persönlichkeit Ferdinand Eberhardts (1808–1888), der der erste jüdische Bürgermeister von Worms war. Josef Mattes, Vorsitzender des Altertumsvereins, berichtete über das verdienstvolle Wirken von Abraham und Rachel Adler. Schwieriger war es, die Grabsteine des älteren Teils zum Reden zu bringen, doch auch das gelang. Die Vorsitzende der jüdischen Gemeinde Mainz, Stella Schindler-Siegreich, entwarf am Grab des Maharil ein Bild jener Zeit.