Die Nachricht, die mir David im privaten Facebook-Chat damals geschickt hatte, kam für mich wie aus heiterem Himmel. Einige Male war ich ihm zuvor bereits in der Mannheimer Synagoge begegnet, wenn er sich in seiner alten Heimat aufgehalten hatte. Ich studierte damals an der Mannheimer Uni Betriebswirtschaftslehre. Über Davids Social-Media-Präsenz hatte ich erfahren, dass er schwul ist und in Berlin lebt. Kaum war auch ich nach Berlin gezogen, um meinen ersten Job anzutreten, wurde ich von David zu einem Meeting von Keshet eingeladen.
Er hatte schon einiges über diese queere jüdische Organisation auf Facebook gepostet. Mir war also bekannt, wozu ich eingeladen wurde – auch wenn ich damals noch nicht wusste, dass Keshet das hebräische Wort für »Regenbogen« ist. Jedenfalls habe ich mich gefragt, wie David darauf kam, dass mich das interessieren könnte. Schließlich war ich bis dahin nirgendwo offen schwul aufgetreten. Meine ehrenamtliche Tätigkeit im jüdischen Zusammenhang jedenfalls hatte bis dahin nichts damit zu tun.
»Meet a Jew«: Gleichaltrige auf Augenhöhe treffen
Damals war ich Teil des Projekts »Meet a Jew«. Wir gingen in Schulen und stellten uns den Fragen von zumeist Gleichaltrigen auf Augenhöhe. Es hat sich ja dann auch gezeigt, dass das sehr effektiv ist, um Antisemitismus und Ressentiments vorzubeugen. Meine Homosexualität aber habe ich in den jüdischen Kreisen zu verbergen versucht, sieht man einmal vom Outing im Elternhaus ab.
Gegenüber meinen Eltern hatte ich mich bereits kurz vor dem Abitur geoutet. Das war noch in München, wo ich aufgewachsen bin. Dort hatte ich den jüdischen Kindergarten sowie die Sinai-Grundschule besucht und eine unbeschwerte Zeit im Umfeld der Israelitischen Kultusgemeinde verbracht. Nun aber lastete auf mir ein gewaltiger Druck. Der Zeitpunkt war gekommen, an dem ich mich vor meiner Familie nicht länger verstellen wollte. Konkrete Gedanken, wie meine Eltern reagieren würden, hatte ich mir zwar keine gemacht, aber natürlich war da eine Angst, wie sie viele queere Jugendliche kennen, die vor diesem Schritt stehen.
In meinem Fall kam hinzu, dass ich aus einer postsowjetischen Familie komme. In der Sowjetunion und vielen ihrer Nachfolgestaaten, allen voran Russland, herrscht vielfach das Vorurteil, dass Homosexualität einhergehe mit Kriminalität, Drogensucht und Pädophilie. Ich konnte also, als ich das Gespräch mit meinen Eltern suchte, nicht unbedingt erwarten, auf offene Ohren und bewegte Herzen zu stoßen. Mein Vater reagierte zunächst sehr beunruhigt, weil er eben Angst hatte, ich könne irgendwie mit »diesen Leuten« in Kontakt kommen und mich in Gefahr bringen.
Im Laufe der Zeit haben sich meine Eltern damit angefreundet, dass ich schwul bin.
Frei von Sorge war auch meine Mutter nicht. Sie befürchtete nämlich, dass das Leben ihres Sohnes schwieriger werden würde. Dann aber fragte sie mit einem Lächeln auf den Lippen, ob ich denke, sie würde mich jetzt deshalb weniger lieben. Das war für mich eine große Erleichterung. Im Laufe der Zeit haben sich meine Eltern immer mehr mit dem Gedanken angefreundet. Schließlich wollen sie – wie alle Eltern – einfach nur, dass ihr Kind glücklich ist. Nun also war ich in Berlin, habe den Umzug dorthin auch auf Social Media kundgetan, und prompt kam Davids Einladung zu diesem Keshet-Meeting.
Nachdem ich beschlossen hatte, sie anzunehmen, wurde ich umso nervöser, je näher der Termin kam. Würde das mein öffentliches Outing bedeuten, das ich bisher vermieden hatte? Doch als ich dann dort war, habe ich mich von der ersten Sekunde an sehr aufgehoben gefühlt. Ich wusste sofort, ich will daran teilhaben. Auf diesem Meeting wurde die Vision von Keshet definiert, wie sie heute in der Satzung verankert ist. Danach sollte ein Foto für den Instagram-Account gemacht werden. Es stünde mir frei, hatte man mir gesagt, ob ich mit auf dem Bild sein wolle. Lange habe ich nicht überlegt, dann stellte ich mich zu der Gruppe.
Pride Schabbat in der Ryekstraße am Prenzlauer Berg
Von Anfang an gehörte ich bei Keshet zum Event-Team. Wir organisieren deutschlandweit queer-jüdische Treffen, kulturelle und Bildungsformate, Veranstaltungen zu jüdischen Feiertagen. Beispielsweise bereitete ich mit dem Event-Team einen Pride Schabbat in der Rykestraße am Prenzlauer Berg vor. Hier in Deutschlands größter Synagoge hatte man uns willkommen geheißen. Den Vorraum hatten wir mit bunter Tisch-Deko und den regenbogenfarbenen Flaggen mit dem Davidstern geschmückt. Ein koscheres Buffet war ebenfalls geliefert worden.
Für die alteingesessene Beterschaft war das natürlich ein ungewohnter Anblick. Es wurde aber toleriert oder zumindest wortlos hingenommen. Ich erinnere mich an einen Anblick, der in dieser Konstellation auch für mich ungewohnt war. Als ich schon saß, kam ein Pärchen herein, zwei Männer, Händchen haltend in diese riesengroße Synagoge. Es war für mich das erste Mal, dass ich in so einer Umgebung, die mir ansonsten ja bekannt war, eine solche Geste gesehen habe, die mir ebenfalls nicht fremd ist. Die Verbindung aus beidem aber war ein Moment, den ich nicht vergessen werde.
Seitdem haben wir von Keshet zahlreiche weitere, große Veranstaltungen organisiert. Bei unserem letztjährigen Pride Schabbat kamen mehr als 200 Leute! Vor einem Jahr habe ich ein Start-up gegründet, was sich der Gesundheitsversorgung für die LGBTQ-Community verschrieben hat. Wir sind als Gründerteam zu dritt, darunter ein Arzt, der zehn Jahre lang in HIV-Schwerpunktpraxen gearbeitet hat und somit die medizinische Expertise mitbringt.
Queere Menschen haben eine zwei- bis dreifach höhere Wahrscheinlichkeit, an einer Depression zu leiden.
Queere Menschen sind höheren gesundheitlichen Risiken ausgesetzt. Sie haben beispielsweise eine zwei- bis dreifach höhere Wahrscheinlichkeit, an einer Depression zu leiden. Gleichzeitig treffen sie auf ein Gesundheitssystem, das seitens der Ärzteschaft vielfach von Unwissenheit bezüglich queer-spezifischer Themen sowie Stigmatisierung geprägt ist. Wir entwickeln Gesundheitslösungen speziell für diese Community, um den Menschen endlich eine adäquate Gesundheitsversorgung auf Augenhöhe zu geben. Aktuell arbeiten wir an der Bereitstellung einer neuen medikamentösen Therapie zur Prävention sexuell übertragbarer Krankheiten.
Und dann kam der 7. Oktober
Schon im letzten Jahr gab es bei Keshet die Idee, zu Chanukka in Berlin eine Party zu veranstalten. Wir hatten zu verschiedenen Locations Kontakt aufgenommen, so auch zum »Südblock«, einer großen queeren Bar in Kreuzberg. Mit deren Team haben wir dann den 9. Dezember für das Event festgelegt und schon konkrete Dinge wie den Ablauf des Programms oder die Dekoration des Raumes abgesprochen. Tja, und dann kam der 7. Oktober. Wir mussten erleben, dass auch in Berlin jüdische Einrichtungen angegriffen wurden. Die Leute vom Südblock zeigten sich grundsätzlich mitfühlend, haben aber gleichzeitig auch die Sorge ausgesprochen, ob es in der aktuellen Situation einen Sinn ergibt, eine solch große Veranstaltung durchzuführen.
Auch wir hatten uns diese Frage gestellt. Dann aber haben wir gesagt, gerade jetzt braucht die queere jüdische Community den Zusammenhalt. Doch die Leitung vom Südblock war zunehmend verunsichert und hat uns schließlich abgesagt. Nun standen wir vier Wochen vor Chanukka ohne Veranstaltungsort da und waren kurz davor, das Ganze abzublasen. Ich habe die Situation dann auf Instagram beschrieben.
Zum Glück half uns die Gabbait der Synagoge am Fraenkelufer und ein gemeinsamer Freund vom israelischen DJ-Kollektiv »Section 8«. Die beiden haben uns als neue Location das »Sage Beach Berlin« vermittelt, einen angesagten Klub in Kreuzberg, direkt an der Spree. Es ist schließlich gelungen, den Zentralrat der Juden und eine ganze Reihe von Kooperationspartnern an Bord zu holen. Schließlich hatten wir über 400 Anmeldungen, und am 9. Dezember ging eine großartige queere Chanukka-Party mit einer unglaublichen Stimmung über die Bühne.
Es war zu spüren, dass die Leute es gebraucht haben, nach außen zu zeigen: Wir sind immer noch hier! Schließlich feiern wir an Chanukka ja auch die Wiederherstellung der jüdischen Souveränität im historischen Israel. Und im Angesicht der derzeitigen Bedrohungen ist dieser Kampf für uns heute genauso aktuell wie vor 2000 Jahren.
Aufgezeichnet von Gerhard Haase-Hindenberg