Itay Ron ist ein politischer Mensch durch und durch. Wenn der 27-Jährige morgens aufwacht, schaltet er sofort sein Smartphone an und informiert sich im Internet über die neuesten Entwicklungen im israelischen Wahlkampf. Seinen »geistigen Kaffee« nennt der Israeli dieses allmorgendliche Ritual. »Ich bin ein Nachrichtenjunkie«, erklärt Ron und lacht. »Gerade jetzt vor der Wahl beschäftige ich mich noch mehr mit der Politik meines Landes als ohnehin schon.«
Dennoch wird Ron am 22. Januar nicht an der Knessetwahl teilnehmen. Der studierte Politikwissenschaftler lebt seit fast zwei Jahren in Düsseldorf und ist momentan arbeitslos. »Ich kann mir die Flugtickets schlichtweg nicht leisten.« Und weil das Wahlgesetz vorsieht, dass jeder Bürger an dem Ort in Israel seine Stimme abgeben muss, an dem er gemeldet ist, wird Ron in diesem Jahr zum ersten Mal in seinem Leben nicht wählen gehen.
Politisch interessiert Der junge Politikwissenschaftler ist einer von mehr als 20.000 Israelis, die derzeit in Deutschland leben. Allein in Berlin besitzen 18.000 Menschen die israelische Staatsbürgerschaft. Die einen zog die Liebe hierher, die anderen wählten Mitteleuropa aus Karrieregründen, und wieder andere sind hier, um für eine bestimmte Zeit einmal in einem anderen Land zu leben. Doch auch fern der Heimat ist das Interesse fast aller Israelis an der heimischen Politik sehr groß. Sie alle müssen, um wählen zu können, extra nach Israel reisen – andernfalls können sie nicht von ihrem Wahlrecht Gebrauch machen.
Das stellt viele Auslandsisraelis vor unüberwindbare Hindernisse. Ido Porat hat für sich auf dieses Problem eine Antwort gefunden, die klarer nicht sein könnte. »Ich werde natürlich nach Israel fliegen und meine Stimme in meiner Heimatstadt Rischon LeZion abgeben.« Porat lebt seit anderthalb Jahren in der Bundesrepublik und ist politisch aktiv: In Israel war er der Vorsitzende der Meretz-Jugendorganisation, hier hat er nun unlängst die sozialistische Jugendbewegung Hashomer Hatzair – Deutschland wiedergegründet.
Für die Wahlen hat sich der Freiberufler eine Woche freigenommen. Die Reise nach Israel verbindet er mit einem Kurzurlaub bei seiner Familie. »Mein Highlight im Januar«, erzählt der 33-Jährige.
Wählen zu gehen ist für ihn ein absolutes Muss – schon allein, weil es im nahöstlichen Raum keinesfalls selbstverständlich ist, die Möglichkeit dazu zu haben: »Dafür genügt bereits ein Blick in unsere arabische Nachbarschaft«, sagt Porat. Selbst wenn der Flug doppelt so teuer gewesen wäre und er in Deutschland andere wichtige Dinge zu tun gehabt hätte – »die Reise wäre das Geld und den Aufwand dennoch wert«.
Wahlorte Dass Israelis nur im jüdischen Staat selbst wählen können, sieht Porat als Politikwissenschaftler mit gemischten Gefühlen. »Es ist sicher nicht optimal, dass ich extra nach Israel fliegen muss, um wählen zu dürfen.« Allerdings sei das Gesetz nicht nur für Israelis im Ausland ein Problem, sondern auch für die im jüdischen Staat selbst. Wer zum Beispiel im Süden lebt und im Norden am Wahltag einen beruflichen Termin wahrnehmen muss, habe ebenfalls ein Problem.
Bei allem Unverständnis plädiert Porat jedoch auch dafür, sich mit den Gründen für das Gesetz zu beschäftigen. Durch die jetzige Regelung soll eine übermäßige Einflussnahme von in der Diaspora lebenden Juden verhindert werden. Ansonsten könnte jeder Jude weltweit die israelische Staatsangehörigkeit annehmen und damit auch wählen. Gleichwohl hat Porat Verständnis dafür, dass sich viele seiner israelischen Freunde in Deutschland über das Wahlgesetz aufregen.
In der Facebook-Gruppe »Israelis in Berlin« etwa wird die Regelung zurzeit kontrovers diskutiert. Mehr als 3000 Mitglieder hat die Gemeinschaft, in der man sich gegenseitig mit Rat und Tat zum Leben als Israeli in der Hauptstadt zur Seite steht. Ob es nicht eine Möglichkeit gebe, als Israeli von Deutschland aus zu wählen, möchte eine Userin wissen. Doch es hilft nichts: Nur Repräsentanten des Staates Israel und deren Angehörige können ihre Stimmen für die Knessetwahl in der Botschaft in Berlin oder im Konsulat in München abgeben. Dies betrifft allerdings gerade einmal 150 bis 200 Personen, teilt die israelische Botschaft in Deutschland auf Anfrage mit.
abstand An Noam Ben Adava hingegen geht die Diskussion um das Wahlrecht voll und ganz vorbei. Er ist in Tel Aviv aufgewachsen und lebt heute mit seiner deutschen Frau in einem kleinen Örtchen bei Leipzig. Auch er verfolgt die Israel-Berichterstattung aufmerksam. Im Gegensatz zu Itay Ron und Ido Porat indes möchte er nicht an der Wahl teilnehmen. »Ich bin nach sechs Jahren in Deutschland nicht mehr nah genug an der israelischen Politik dran, um eine qualifizierte Entscheidung zu treffen«, sagt er.
Zudem empfände er es als unfair, vom sicheren Deutschland aus über das politische Schicksal Israels mitzuentscheiden, ohne dort zu leben. Doch selbst wenn Ben Adava wollte, hätte er in diesem Jahr gar nicht die Möglichkeit, nach Tel Aviv zu reisen und wählen zu gehen. Im Moment ist er beruflich voll ausgelastet – »und die Kosten für die Flüge sind auch kein Pappenstiel«. Den Wahltag am 22. Januar wird er zu Hause in Sachsen gemeinsam mit seiner Frau vor dem Fernseher verbringen.
Wie es derzeit aussieht, wird ebenso Itay Ron am Wahltag vor dem Fernseher sitzen – wenn auch aus anderen Gründen. Doch der Tel Aviver hat die Hoffnung noch nicht aufgegeben. Vielleicht werde es ja doch noch etwas mit seinem Wunsch, wählen zu gehen. »Die Hoffnung stirbt zuletzt«, sagt er mit israelischem Akzent. »So heißt das doch bei euch, oder? Mit etwas Glück bekomme ich Last-Minute vielleicht doch noch ein günstiges Ticket.«