Wenn mich jemand fragt, woher ich komme oder woher mein Name stammt, dann sage ich ganz gern: Ich bin Berlinerin mit Immigrationshintergrund – die klassische Berlinerin also. Geboren wurde ich in der ehemaligen Sowjetunion, im heutigen Moldawien. Irgendwann einmal habe ich versucht, mehr über meinen Geburtsort zu recherchieren.
In den 30er-Jahren waren 90 Prozent der dortigen Bevölkerung jüdisch. Die Familie meiner Mutter kommt aus Moldawien, mein Vater stammt aus der Ukraine. Verwandte habe ich nicht mehr in der ehemaligen Sowjetunion, deswegen war ich auch nie dort. 1990 sind wir – etwa ein Dreivierteljahr nach meiner Geburt – nach Deutschland ausgewandert.
Israel Das Ziel unserer Reise war ursprünglich Israel. Denn alle unsere restlichen Verwandten, außer den Großeltern, sind dorthin ausgewandert. Wir wollten aus Warschau einen Flug nach Tel Aviv nehmen. Die Schwester meines Vaters war zu diesem Zeitpunkt schon in Deutschland. Sie sagte ihm, dass das Leben hier ganz gut sei und dass wir es einmal versuchen sollten. Wir sind dann an die deutsche Grenze gefahren und wurden hineingelassen. Wir sind also ein bisschen zufällig in Deutschland gelandet.
Aufgewachsen bin ich in Berlin-Tempelhof. Dort lebte ich bis zu meinem 22. Lebensjahr. Erst besuchte ich – wie auch später mein kleiner Bruder – den jüdischen Kindergarten im Grunewald, später die Grundschule in Tempelhof – jene Schule, die vor wenigen Jahren wegen antisemitischer Vorfälle in die Schlagzeilen geriet. Das hat mich wirklich verwundert. Es war früher so pluralistisch in meiner Klasse. Ich hatte Mitschüler von überall her.
Französisch Ich wollte immer Französisch lernen, da meine Oma erzählte, dass sie es konnte. Auf der weiterführenden Schule habe ich dann Französisch als erste Fremdsprache gewählt. Ich lerne unglaublich gern Sprachen. Ich spreche fließend Französisch, Englisch und Russisch. Jetzt habe ich Spanisch gelernt und auch einen Jiddischkurs an der Volkshochschule gemacht. Auch Hebräisch habe ich einmal angefangen.
Ich fand es so faszinierend, bei einer OP zuzuschauen.
Als Teenager wusste ich natürlich nicht, was ich werden wollte. In Berlin macht man in der zehnten Klasse ein Praktikum. Meines habe ich im Jüdischen Krankenhaus auf der Kardiologie-Station absolviert. Ich fand das so faszinierend! Ich durfte sogar bei einer OP zuschauen. Für mich war das Kunst: die Ärzte, die sich steril eingekleidet und operiert haben, das Blut. Heute weiß ich, dass das »nur« eine kleine Katheter-Operation war. Damals war es für mich pures Adrenalin. Da wusste ich, dass ich Medizin studieren möchte.
BERUF Zum Studium zog ich nach Mainz. Auf meinen Studienplatz habe ich drei Jahre gewartet. Dazwischen habe ich eine Ausbildung zur Rettungsassistentin gemacht und mich im Ausland beworben. In Mainz hatte ich eine superschöne Zeit. Aber es war sehr weit weg von meinem Zuhause. Im vergangenen Sommer habe ich mein Medizinstudium erfolgreich abgeschlossen. Derzeit promoviere ich an der Mainzer Uniklinik im Bereich Frauenheilkunde; dabei geht es um Krebsforschung. Wenn die Experimente abgeschlossen und ausgewertet sind, würde ich gern anfangen zu arbeiten. Das war immer mein großes Ziel.
Ich bin jemand, der praktisch und mit Menschen arbeitet. Ich sehe mich in der gynäkologischen Chirurgie als Frauenärztin. Vielleicht später, wenn ich keine Nachtschichten mehr machen will, auch einmal in einer Praxis. Mit der Corona-Krise frage ich mich natürlich, ob ich vielleicht doch ein bisschen früher anfangen sollte zu arbeiten, weil man nicht weiß, wie es in den Krankenhäusern aussieht oder aussehen wird. Doch ich habe Angst, dass die Promotion dann auf der Strecke bleibt.
Als ich nach Mainz ging, war mein jüdisches Umfeld nicht mehr da. Es war traurig, dass man mit niemandem die Chanukkakerzen zünden konnte, an Pessach in der Synagoge kannte ich niemanden. Es war schwer, an junge Leute heranzukommen. Ich habe in Mainz zum ersten Mal die Erfahrung gemacht, dass jemand zu mir sagte: Du bist die erste Jüdin, die ich kennenlerne. In Berlin hatte ich das nie erfahren.
BEGEGNUNG Eines Tages erzählte mir mein Freund, dass es ein ähnliches Projekt wie »Likrat« gibt, das Begegnungsprojekt des Zentralrats, bei dem man in Schulen geht und mit Kindern spricht. Daraufhin habe ich im Internet recherchiert und fand die Initiative »Rent a Jew«. Ich habe bei dieser Initiative seit 2016 im Rhein-Main-Gebiet mitgemacht, als ich noch in Mainz studierte. Jetzt bin ich weiterhin bei »Meet a Jew« dabei, dem neuen interreligiösen Dialogprojekt des Zentralrats, das frühere Initiativen bündelt und bei dem man sich auf Augenhöhe mit Kindern, Jugendlichen oder Erwachsenen trifft.
Ich habe die Erfahrung gemacht, dass, wenn man den Beteiligten Offenheit und Empathie entgegenbringt, man dann auch genau das zurückbekommt. Das Coole an »Meet a Jew« ist, dass ich einfach ich sein und von meiner jüdischen Realität erzählen kann, ohne dass ich mich verstelle. Oft geht man zu zweit dorthin. Ich war mit Älteren oder auch Jüngeren unterwegs, auch mit Menschen aus anderen sozialen Schichten.
Fragen Es waren immer super Gespräche. Man hat bemerkt, dass die Leute viele Fragen haben. Viele kennen tatsächlich keine Juden. Ich hatte das Gefühl, sie können jetzt mit Juden reden – und nicht nur über sie. Vor allem Jugendliche lernen das Judentum nicht nur aus einem Geschichtsbuch kennen, wo wir immer nur Opfer sind.
Ich würde mich eher als säkular beschreiben. Meine Familie war so geprägt, dass das Judentum immer in der Familie stattgefunden hat. Man durfte nicht so laut sagen, dass man jüdisch ist. Ich hatte nicht das Gefühl, dass meine Eltern sich verstecken wollen. Es ging ihnen vielleicht darum, dass ich keine negativen Erfahrungen mache.
Dadurch habe ich das Judentum nur so kennengelernt, wie meine Familie es in den kleinen Städten in der Sowjetunion gelebt hat. Das heißt für mich: Feiertage in der Familie, bestimmte Speisen und Rituale. Ich wusste nicht, was eine russische oder eine jüdische Speise ist. Mittlerweile weiß ich das natürlich. Es gab dann den Salat »Olivier« und Gefilte Fisch, also beides.
Ich empfinde mich als deutsche Jüdin mit Migrationshintergrund.
Jetzt empfinde ich mich als deutsche Jüdin mit Migrationshintergrund. Ich kann Russisch sprechen, aber ich weiß gar nicht, was typisch russische Bräuche wären, außer, dass man an Neujahr einen Tannenbaum aufstellt. Meine Familie hat sich nie danach gesehnt, zurückzugehen. Sie hat die Auswanderung nie bereut und wusste, dass mit der neuen Heimat auch neue Chancen verbunden sind.
Dankbarkeit Ich bin meinen Eltern sehr dankbar, dass wir hierhergekommen sind. Wenn ich mir überlege, dass alles in einem Asylantenheim angefangen hat, dann denke ich, dass sie ihr Bestes gegeben haben, damit wir alles machen konnten. Ich glaube, es macht Deutschland aus, dass man diese Möglichkeiten hat.
Wir haben immer unsere Familie in Israel besucht. Dort habe ich einmal ein längeres Praktikum gemacht. Auch bei »Taglit« habe ich mitgemacht. Ich finde das Land wunderschön. Ich weiß nicht, ob ich dort leben könnte, weil ich doch sehr europäisch bin. Ich fahre immer sehr gern dorthin und genieße den israelischen Alltag, der ganz anders ist als hier.
Mit dem Studienabschluss habe ich ein ganz großes Stück meines Weges abgeschlossen. Ich möchte meine Promotion vervollständigen und endlich in meinen Traumberuf starten. Ich habe Respekt davor, was kommt, aber ich freue mich darauf. Ich werde einfach schauen, wo das Leben mich hintreibt.
CORONA Kürzlich war ich mit meinem Freund einige Monate im Ausland. Wir sind in ein ganz anderes Deutschland zurückgekehrt, als wir es im Dezember verlassen hatten. Ich war erst einmal zu Hause bei meinen Eltern und mein Freund bei seinen. Jüdische Mütter finden es nie schlecht, wenn ihre Kinder zu Hause sind.
Ich dachte natürlich auch anfangs, mit Corona würde es nicht so schlimm werden. Aber es hat sich anders entwickelt. Ich denke, es ist auf jeden Fall richtig, dass wir unseren Kontakt zu anderen verringern. Denn kein Arzt auf dieser Welt möchte diese Entscheidung treffen wie in Italien, dass man triagieren muss. Ich hoffe, dass man die Beschränkungen nur peu à peu auflöst.
In Deutschland waren nach Meinung eines Virologen die Ansteckungen vor allem im mittleren Alterssegment zu finden. Wenn man alles lockert, habe ich Angst, dass es dann auch die ältere Bevölkerung trifft. Ich habe meine Großeltern schon lange nicht mehr gesehen und vermisse sie sehr. Aber ich würde mich wirklich schlecht fühlen, wenn ich sie anstecken würde. Deswegen denke ich, man muss da aufpassen. Man muss hoffen, dass das Gesundheitssystem das stemmen kann, wenn das Virus sich langsam verbreitet. Das ist das Wichtigste.
Aufgezeichnet von Eugen El