Purim ist nicht nur eine heitere und ausgelassene Angelegenheit, sondern für den Vorleser der Megilla auch harte Arbeit. Denn der Vortrag der Esther-Geschichte unterliegt strengen Vorgaben. So muss etwa die Textrolle komplett ausgerollt und auf dem Tisch ausgebreitet werden, um das Wunder, von dem sie berichtet, sozusagen in seiner ganzen Fülle und Tragweite zu offenbaren. Auch gilt es, die Stelle, an der die Hinrichtung der zehn Söhne Hamans geschildert wird, in einem Atemzug aufzusagen, weil sie alle gemeinsam erhängt wurden – was den Rezitator und insbesondere seine Lungenkapazitäten vor eine enorme Herausforderung stellen dürfte.
In einigen wenigen Gemeinden hat sich die Sitte etabliert, bei jeder Erwähnung des Namens »Haman« mit einem Hammer kräftig auf den Tisch zu schlagen. Mancherorts ist es auch üblich, zwei Steine gegeneinander zu schlagen, sobald der Name desjenigen fällt, der die Juden ausrotten lassen wollte.
Schuhsohlen Andere schreiben sich diesen Namen auf die Schuhsohlen und stampfen dann so heftig bei der Erwähnung des Namensträgers auf, bis der Schriftzug ausgelöscht ist – eine Vorgehensweise, die zum Beispiel Jona Simon, Rabbiner beim Landesverband der Jüdischen Gemeinden von Niedersachsen und Dozent am Abraham Geiger Kolleg in Potsdam, kritisiert – aus Respekt vor der Mutter Hamans, die diesen Sohn geboren und sicher auch geliebt hat. Er lehnt es auch ab, bei der Erwähnung der Namen von Hamans Söhnen ebenfalls Krach zu schlagen: Schließlich könne man sie ja nicht für die Verbrechen des Vaters verantwortlich machen.
Sehr verbreitet in jüdischen Gemeinden dürfte allerdings die Tradition der Klappern und Rätschen sein, deren ohrenbetäubender Lärm jede Nennung des Bösewichts begleitet. Kein Wunder, dass vor allem Kinder diesen Brauch lieben. Doch auch das ist nicht ganz unproblematisch, denn, wie Yoni Rose, Kantor der Jüdischen Gemeinde Frankfurt, erläutert, ist es gleichzeitig die Pflicht eines erwachsenen Juden, jedes Wort der Esther-Geschichte aufzunehmen. Daher müsste es eigentlich während der Lesung mucksmäuschenstill in der Synagoge sein.
Kinderschreien Was aber tun, wenn zum Beispiel ein Kind erschrickt oder – befeuert durch den Lärm der Rasseln und Ratschen – nicht mehr zu besänftigen ist und lauthals schreit? Hinausgehen, um die anderen beim Zuhören nicht weiter zu stören, schlägt Yoni Rose vor.
Dass die Schriftrolle an Purim zweimal gelesen wird, hat seines Erachtens daher auch einen ganz pragmatischen Grund: Eltern bekommen eine zweite Chance, den Text vollständig zu hören. Übrigens ist die Anwesenheit der Frauen bei der Lesung nicht nur willkommen, sondern absolut erwünscht: Schließlich ist es in diesem Fall auch eine Frau – Esther –, die die Rettung der Juden aus tödlicher Gefahr bewirkt.
Dass bei der Lesung kein Wort ungehört untergehen darf, hat außerdem dazu geführt, dass viele Rezitatoren den Namen Hamans noch einmal wiederholen, nachdem das Gerassel, Gezische und Geknatter verklungen ist. »Ich empfehle meinen Studenten immer: ›Macht eine Pause, bis sich der Lärm gelegt hat‹«, erklärt Rabbiner Simon. »Solche praktischen Details haben mir selbst während meines Studiums gefehlt«, sagt er. Daher versucht er als Lehrer nun, die künftigen Rabbiner mithilfe solcher sachdienlicher Hinweise besser auf ihren Berufsalltag vorzubereiten. Denn das Lesen der Megillot ist Bestandteil des Curriculums am Abraham Geiger Kolleg. Zwar sind die Gesangszeichen für die Rezitation der Textrollen, die Ta’amim, dieselben wie bei Tora und Haftara. Aber die Melodie ist eine andere: »Nach den ersten drei Tönen weiß jeder: Das ist Esther«, ist Jona Simon überzeugt.
Melodienwechsel Auch Daniel Kempin, Vorbeter des Egalitären Minjans in Frankfurt, hat sich in seinem Kantorenstudium mit den Megillot beschäftigt: »Über jedes einzelne Buch, darunter auch die Megillat Esther, mit seinem je eigenen Gesang, wird man auch geprüft«, berichtet Kempin. Und auch er hat es sich zur Gewohnheit gemacht, eine Pause einzulegen, bis nach den verbalen Ausbrüchen gegen Haman in der Gemeinde wieder Ruhe eingekehrt ist.
Kempin und Simon pflegen außerdem seit einigen Jahren einen Brauch, der ihre eigene Stimme schont und den Zuhörern dafür Gelegenheit zur Partizipation bietet: In seiner Heimatgemeinde Oldenburg, so erzählt der norddeutsche Rabbiner, »lesen wir nur den Anfang und das Ende der Esther-Geschichte auf Hebräisch, alles andere wird in allen möglichen Sprachen vorgetragen. Ich glaube, in diesem Jahr werden es 21 verschiedene Sprachen sein.« Es gab in Oldenburg auch schon einmal eine Rezitation in Dialekten: wechselweise auf Plattdeutsch, Sächsisch und im Ruhrpott-Idiom.
Auch beim Frankfurter Egalitären Minjan wird es an diesem 14. Adar wieder polyglott zugehen. So sollen einzelne Partien der Megilla auf Chinesisch, Französisch, Spanisch und Russisch gelesen werden. Ins Schwitzen, meint Kantor Kempin, komme er daher eher wegen seiner Perücke und des Kostüms als durch einen anstrengenden Vortrag.
Spannung Kantor Yoni Rose hat hingegen noch nie die Megilla öffentlich gelesen, aber er erinnert sich an die vielen Male, die er dieses Ereignis seit seiner Kindheit miterlebt und mitgehört hat. Und immer hat ihn dieser Moment sehr bewegt und fasziniert, auch wenn sich im Laufe der Jahre der Fokus seiner Aufmerksamkeit natürlich verschoben hat. »Spontan erinnere ich mich an diese ganz besondere, irgendwie aufgeladene Stimmung in der Menge, kurz vor Beginn der Lesung. Wir Kinder waren aufgeregt, weil wir uns verkleiden durften und weil wir schon gespannt auf unsere Mischloach Manot warteten«, erzählt Rose. Er habe sich als kleiner Junge immer besonders auf das Essen an den Feiertagen gefreut, vor allem auf die verschiedenen Limonaden.
Ihn wie Daniel Kempin fasziniert an der Esther-Geschichte vor allem das Phänomen, dass der Name Gottes kein einziges Mal erwähnt wird. »Trotz des Eindrucks, dass sich Haschem zu bestimmten Zeiten vermeintlich verborgen hielt, haben wir dennoch das Vertrauen, dass Gott auch in diesen Zeiten bei uns ist und alles einen tieferen, wenn auch verborgenen Sinn hat«, erläutert Kantor Kempin. An Purim gibt es für ihn beides: »Einerseits verbergen wir uns selbst durch die Kostümierung, andererseits kann der Alkohol bewirken, dass wir unser Innerstes nach außen kehren und sozusagen die Maske fallen lassen.«
Ein Purimfest ist ihm besonders in Erinnerung geblieben: Während seines Studiums an einer Jeschiwa in Jerusalem konnte er miterleben, »wie der Vorbeter nach dem Gottesdienst auf einen Tisch stieg und unter Jubelrufen der Gemeinde Wodka aus der Flasche trank. Anschließend reichte er die Flasche weiter an alle, die ebenso in großen Zügen daraus trinken wollten.«
Ganz so ausschweifend, versichert Kempin, werde Purim beim Egalitären Minjan in Frankfurt allerdings nicht begangen.