Herr Rabbiner Bistritzky, Sie haben in einem ersten Tweet als Reaktion auf den Anschlag auf den 26-jährigen Studenten gesagt: »Wir möchten jetzt keine Solidarität, wir wollen Taten!« Wie ist diese Aussage zu verstehen?
Selbstverständlich ist Solidarität gut. Gerade war Hamburgs Zweite Bürgermeisterin, Katharina Fegebank, bei uns in der Synagoge zu Besuch und hat mit dem Vorstand gesprochen. Natürlich ist das wichtig. Was ich gemeint habe, ist, dass wir – Juden und Nichtjuden – vor einem Jahr in Deutschland erschüttert und geschockt von Halle waren und es danach sehr viel Solidarität gab. Doch wenn wir jetzt so etwas noch einmal erleben, zwar in einem anderen Ausmaß, aber wieder ein Anschlag vor den Augen der Polizei, dann bedeutet das, dass Solidarität nichts gebracht hat. Und deswegen muss man jetzt etwas tun. Die Solidarität zeitigt keine Ergebnisse, es gibt keine Weiterentwicklung.
Das Hamburger Bündnis gegen Rechts (HBgR) rief gestern Nachmittag zu einer Mahnwache vor Ihrer Synagoge auf ...
Dass sie auf unserer Seite sind, ist gut. Die Frage ist: Was verändert das, gerade bei den Menschen, die diese Veränderung brauchen? Man muss darüber nachdenken, wie man zu denen vordringt, die von Hass beeinflusst werden. Wir sprechen schon seit einem Jahr – auch coronabedingt – davon. Wir sprechen mit dem Senat in Hamburg darüber, dass alle Jugendlichen an weiterführenden Schulen verpflichtend eine Synagoge besuchen sollten, damit sie jüdisches Leben erleben. Damit sie ein Gespräch mit uns, mit jüdischen Vertretern, führen, die auf bestimmte Fragen wirklich Antwort geben können. Es ist ein möglicher Weg, um Vorurteile abzubauen.
Es heißt, der festgenommene 29-Jährige habe einen extrem verwirrten Eindruck gemacht. Wie bewerten Sie diese Aussage?
Verwirrt – das ist schon eine alarmierende Bemerkung, mit der man die Tat auch relativieren kann. Man könnte sie so verstehen, dass das Ganze nicht so schlimm ist. Auf der anderen Seite ist der mutmaßliche Täter jemand, der eine bestimmte Absicht hatte, der sich entsprechend militärisch gekleidet hatte. Das erinnert an den Anschlag von Halle. Ein Mann, der mit einem Hakenkreuz in der Tasche und einer Schaufel in der Hand zur Synagoge geht, wirkt auf mich nicht wie jemand, der gerade eine psychische Krise hat. Das ist kaltblütig geplant. Man kann auch nicht behaupten, dass es sich um einen Einzeltäter handelt, denn es gibt Vorbilder.
Haben Sie von den Vorgängen etwas mitbekommen?
Nein. Die Tat ereignete sich vor dem Tor der Synagoge. Ich war mit meiner Frau und den Kindern auf einem Sukkot-Spaziergang. Wir kamen wenige Minuten nach dem Anschlag zurück. Es war ein großes Glück, dass wir nichts gesehen haben und auch nicht vor Ort waren.
Ist es aus Ihrer Sicht denkbar, dass der Angriff mit dem Jahrestag in Halle oder dem Prozess in Verbindung steht oder dass sich der Täter dadurch »berufen« gefühlt haben könnte?
Das sind natürlich Vermutungen und Spekulationen. Aber einiges ist doch sicherlich kein Zufall und nicht anzuzweifeln: Die Tat geschah an einem Feiertag, vor einer Synagoge, und der Mann hatte ein Hakenkreuz in der Hosentasche. All das deutet darauf hin, dass es keine spontane Handlung, sondern durchaus geplant war. Natürlich gibt es hier Einflüsse und Vorbilder, die Frage ist, welche. Hier müssen Behörden und Datenschutz transparenter arbeiten. Man kann doch nicht so tun, als ginge hier der Datenschutz vor Sicherheit. Wenn das weiter geschieht, werden wir solche Vorfälle wieder und wieder erleben.
Hamburg hat bislang noch keinen eigenen Antisemitismusbeauftragten. Es hieß immer, der Draht zur Stadtregierung sei so eng, man brauche das nicht und könne sich im Einzelfall absprechen. Ist es jetzt vielleicht doch notwendig?
Darüber habe ich gestern ausführlich mit unserem Gemeindevorsitzenden Philipp Stricharz, seinem Stellvertreter Eli Fel und Katharina Fegebank gesprochen. Beide Gemeindevertreter sprachen sich ausdrücklich für einen Antisemitismusbeauftragten aus. Allerdings war in der Vergangenheit immer wieder zu hören, dass wir keinen Beauftragten wollen, der vor allem Vorträge hält oder Statistiken liefert. Stattdessen muss es doch darum gehen, aktiv Programme, Ideen und Schulprojekte anzuregen. Dafür würden wir definitiv stimmen. Und das war auch Teil des Gesprächs.
Ständig erreichen uns neue Nachrichten über Rechtsextremismus in der Polizei. Schwächt das Ihr Vertrauen in die Sicherheitsbehörden?
In Hamburg haben wir bislang noch keine schlechten Erfahrungen gemacht. Und wir haben einen sehr guten Draht zu unserem Polizeipräsidenten. Ich hoffe sehr, dass die Hamburger Polizei zuhört, was in anderen Bundesländern geschieht, und die Angelegenheit intern prüft – proaktiv und nicht reaktiv.
Mit dem Landesrabbiner der Stadt Hamburg sprach Heide Sobotka.