Die Wörter »Wunder« und »historisch« werden in solchen Augenblicken gern benutzt. Denkwürdig war dieser Augenblick im Gemeindehaus Fasanenstraße schon. Mit einer feierlichen Zeremonie wurde am Sonntag in Berlin die erste Absolventin des Zacharias Frankel College zur Rabbinerin ordiniert. Nizan Stein Kokin ist damit die erste in Deutschland ausgebildete konservative Rabbinerin seit der Schoa. Masorti – so der hierzulande gebräuchliche Begriff für das vor allem in den USA stark vertretene konservative Judentum – nimmt eine Position zwischen Orthodoxie und Reformbewegung ein. Das an der Universität Potsdam angesiedelte Frankel College bildet damit die dritte Säule der Rabbinatsausbildung in Deutschland und ist ein einzigartiges Projekt in Europa.
Das wussten auch die Festredner in der Berliner Fasanenstraße vor den vielen Gästen aus dem In- und Ausland zu würdigen. Freunde und Wegbegleiter der Absolventin waren in den großen Gemeindesaal gekommen: zahlreiche Rabbiner und Rabbinerinnen des konservativen Spektrums, Vertreter aus Politik, Kirchen und muslimischen Verbänden und als Mitglied des Stiftungsrats der Leo Baeck Foundation, die das Frankel College mitbegründet hat, auch der thüringische Ministerpräsident Bodo Ramelow (Die Linke).
Nach dem Nachmittagsgebet und einer musikalischen Einstimmung ging es in den offiziellen Teil über – ein Augenblick, dem Nizan Stein Kokin mit großer Spannung entgegengeblickt hatte. Wie bei einer Masorti-Ordination üblich, wurden bei der Zeremonie vor dem Beit Din die Torarollen gezeigt. Für ihren ersten Schiur als Rabbinerin hatte sie sich Psalm 1 ausgesucht, der mit den Worten einsetzt: »Glücklich der Mensch, ... der seine Freude hat an Seiner Weisung ...«. »Ich bin«, sagt Nizan Stein Kokin, »sehr freudig und stolz, die erste Absolventin des Frankel College zu sein.«
Wunder Rabbiner Bradley S. Artson, Dekan der Ziegler School of Rabbinic Studies in Los Angeles, sprach schließlich von einem Wunder, dass diese Ausbildung in Europa, zumal in Deutschland, heute auf diese Weise möglich ist. Er dankte ausdrücklich der »Vision und Beharrlichkeit« von Rabbiner Walter Homolka, dem Geschäftsführer des Frankel College und Rektor des Abraham Geiger Kollegs.
Die fünfjährige Ausbildung am Frankel College stellt höchste Ansprüche an die Studenten. Neben intensiven Seminaren im kleinsten Kreis mit international renommierten Dozenten und Praktika in jüdischen Gemeinden ist sie als Master-Studiengang in die Potsdamer School of Jewish Theology integriert. Große Unterstützung erhielt das seit 2013 bestehende Frankel College von der Universität Potsdam. Ihr Präsident Oliver Günther ist »froh und stolz«, ein Partner der School of Jewish Theology und damit auch ein wichtiger Teil des interreligiösen Diskurses zu sein.
Jeff Levine dankte im Namen der Ziegler School ausdrücklich für diese Unterstützung. Doch ohne die Ziegler School in Los Angeles als religiöse Trägereinrichtung und die Kooperation mit der Conservative Yeshiva in Jerusalem wäre die Arbeit indes nicht denkbar, betonte die Berliner Rabbinerin Gesa Ederberg.
Vitalität Für Daniel Botmann, Geschäftsführer des Zentralrats der Juden in Deutschland, ist diese erste Masorti-Ordination in Deutschland »Ausdruck und Symbol der wachsenden Vitalität der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland«. Es sei einfach nur großartig, wie vielfältig und erfolgreich – und das ganz unabhängig von der religiösen Ausrichtung – sich die jüdische Bildungslandschaft mittlerweile zeige.
Botmann erinnerte an das orthodoxe Hildesheimersche Rabbinerseminar in Berlin, die Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg, das Abraham Geiger Kolleg in Potsdam mit der liberalen Rabbinats- und Kantorenausbildung und nun eben an das Frankel College für die konservative Strömung. »Ich wünsche mir, dass junge Jüdinnen und Juden diese Chancen noch mehr nutzen, denn wir brauchen unabhängig von der Ausrichtung mehr Rabbiner und Rabbinerinnen in unserem Land.«
Zacharias Frankel, der Namensgeber des Kollegs, gründete 1854 das bis zu seiner Schließung 1938 bestehende Jüdisch-Theologische Seminar in Breslau. Er gilt als Vordenker des Mittelweges zwischen Orthodoxie und Reformbewegung. Masorti bedeutet »traditionell«. Es wird großer Wert auf die Halacha gelegt. Zugleich ist Masorti egalitär und bietet Frauen die Möglichkeit, ein geistliches Amt zu übernehmen.
Bildungsarbeit Nizan Stein Kokin, jahrelang engagiert in der jüdischen Bildungsarbeit, hegte schon lange den Wunsch, in der Gemeindearbeit aktiv zu sein und Gottesdienste mitzugestalten. Mit großer Leidenschaft hat sie sich schon früh in das Studium der biblischen und talmudischen Schriften vertieft. Nach einem Freiwilligen Sozialen Jahr in Israel hatte sie an der Hebräischen Universität in Jerusalem Judaistik studiert und einen orthodoxen Gijur gemacht. Das Beit Midrasch sei der Ort gewesen, an dem ihr Wunsch, Rabbinerin zu werden, gereift sei. Und am liebsten, so gestand sie, würde sie gleich da weitermachen. »Aber jetzt ist der Moment gekommen, wo ich all das, was ich gelernt habe, in die Tat umsetzen möchte.«
Nizan Stein Kokin, mit ihrem deutschen Vornamen Anemone, hat einen langen Weg hinter sich. »Nizan« bedeutet im Hebräischen »neuer grüner Spross«, vergleichbar mit den ersten Blättern, die im Frühjahr an den Bäumen wachsen. Ein Name, den sie sich in Israel ausgesucht hat und der wohl auch ein Sinnbild für ihren Weg von einem christlichen Elternhaus in Baden-Württemberg bis zur ersten Masorti-Rabbinerin Deutschlands ist.
Tradition Bevor die Feierstunde in einem lockeren Empfang ausklang, erinnerte die frisch ordinierte Rabbinerin an Regina Jonas, die 1935 die weltweit erste Rabbinerin wurde und in deren Tradition sie sich sieht. »Mit ihrer Ausdauer und Zielstrebigkeit ist Regina Jonas ein großes Vorbild für mich.« Regina Jonas wurde im Dezember 1944 im Alter von 42 Jahren in Auschwitz ermordet. Genauso alt ist die Absolventin des Frankel College heute.
Sie wolle das Werk ihres großen Vorbildes fortsetzen, sagte Nizan Stein Kokin. »Es ist ein Privileg und ein Versprechen, als traditionelle und moderne Frau in die Fußstapfen von Regina Jonas zu treten«, sagt die ordinierte Rabbinerin. Nizan Stein Kokin, die mit ihrer Familie derzeit in Los Angeles lebt, sieht sich als erste in Europa ordinierte Masorti-Rabbinerin auch als eine Brückenbauerin zwischen der von Zacharias Frankel begründeten Tradition und der heutigen konservativen Strömung in den USA.