Ja», sagt Solomon und seufzt leise. «Sie wollte wieder als Prinzessin gehen. Wie immer!» Das Kleid seiner Tochter Naomi ist rosa, mit goldener und weißer Spitze verziert, und der weit ausgestellte Rock reicht bis über ihre kleinen Füße hinab. Ihre Haare sind zu vielen kleinen Zöpfen geflochten, sie drohen jedoch, sich allmählich aufzulösen. Denn die knapp Fünfjährige ist zwar eine entzückende königliche Hoheit, aber sie zeigt nicht viel Ehrfurcht vor höfischem Protokoll und royaler Etikette, sondern rennt und tobt mit ihren Freundinnen ausgelassen im großen Festsaal des Frankfurter Gemeindezentrums herum.
Naomi hat übrigens viel Konkurrenz an diesem Sonntagnachmittag, an dem die WIZO wie in jedem Jahr zum «Purim Lunapark» geladen hatte. Mehr Prinzessinnen als hier dürften auch nicht zusammenkommen, wenn wieder einmal jemand aus der britischen Königsfamilie zu heiraten beabsichtigt und alle «Blaublüter» Europas zur Hochzeitsfeier einlädt.
Mädchenträume Was der BuckinghamPalast aber nicht zu bieten hat, sind die vielen Elfen, Engel, Feen und Meerjungfrauen mit glitzernden Flügeln, Zauberstab und Diademen im lang herabwallenden Haar, die sich im Lunapark die Ehre geben. Genderdebatte und Feminismus haben anscheinend nichts daran geändert. Wenn kleine Mädchen träumen und sich an diesem einen Tag im Jahr in ihre Idealgestalt verwandeln dürfen, dann wollen sie nicht Baggerfahrer, Krieger oder Häuptling sein. Als ihr Motto muss wohl vielmehr ein Song von Nina Hagen aus den 80er-Jahren herhalten: «Augenblicklich fühl’ ich mich unbeschreiblich weiblich!»
Solomon hat aber auch noch einen dreijährigen Sohn, und dessen Kostüm darf ebenso als symptomatisch oder prototypisch für das Purimfest 2014 gelten: Yishai ist als Spiderman gekommen und trägt einen eng anliegenden Bodysuit im typischen Rotblau mit schwarzem Spinnennetzmuster und einer düsteren Kopfmaske, die er jedoch wegen der Hitze im Saal weit über die Stirn nach oben geschoben hat.
Aber auch er ist nicht allein: Überall schwirren kleine Spinnenmänner herum: Da, in der Kiste, die das Förderband herabsaust, sitzt einer, auch wenn er zur Sicherheit einen gelben Bauarbeiterhelm auf dem Kopf trägt, sodass man ihn eine Sekunde lang glatt für Bob den Baumeister hätte halten können; beim Torwandschießen nimmt auch gerade ein Spinnenmensch Anlauf Richtung Ball; in der Hüpfburg werden sogar winzige Spiderman-Zwillinge gesichtet; und ein frommer Spinnenmensch trägt statt der Maske eine bunte Kippa zum Kampfanzug. Zusammengenommen wirken sie fast wie eine kleine Privatarmee. «Die Spidermen sind heute eindeutig in der Überzahl», sagt auch Esther und lässt ihren Blick kritisch über die Menge schweifen.
Schwertkampf Esthers Sohn gehört zur anderen, zur zweitgrößten Fraktion unter den kleinen Jungen: den Star-Wars-Kriegern. Levi hat Glück gehabt dieses Jahr, denn erst vor ein paar Tagen hat er seinen sechsten Geburtstag gefeiert. Und was hat er sich am sehnlichsten gewünscht? Ein Darth-Vader-Kostüm. Richtig zum Fürchten sieht er darin aus, vor allem dank der kantigen schwarzen Maske, die sein Gesicht komplett verbirgt.
Auf seiner Geburtstagsparty hat er mit seinem Freund Ilad bereits verabredet, dass sie beim Lunapark gegeneinander kämpfen werden. Und das haben sie denn auch getan und vor staunendem Publikum elegant die Klingen ihrer Laserschwerter gekreuzt. Ilad ist übrigens Meister Yoda. Jetzt liegen Maske und Waffe neben Levis Mutter Esther, die sich für einen Moment auf eine Bank gesetzt hat. Levi ist hüpfen gegangen, und dieses harmlose Vergnügen verträgt sich wohl nicht mit der Würde eines Darth Vader.
Marlon hat bei der Wahl seines Kostüms für diesen Tag lange geschwankt: Darth Vader, Drache, Pirat, Indianer oder Batman? Am Ende hat der Fledermausmensch gesiegt. «Aber wenn Oma demnächst in ihrer Garage Purim feiert, komme ich als Darth Vader», hat der Fünfjährige bereits beschlossen. Sein Vater Alon, der auch noch seine beiden Töchter, Laura (Piratin) und Rosa (Indianerin), im Schlepptau hat, gibt sich kaum weniger männlich als sein kleiner Sohn: Er tritt als stattlicher Sultan auf, mit Turban, schwarzem Bart und goldener Sonnenbrille.
Robin Hood Und dann und wann taucht ein kleiner Tiger oder Löwe auf. Aber Raubkatzen scheinen in diesem Jahr zu den vom Aussterben bedrohten Kostümarten zu zählen. Aber es gibt sie auch, die Ausnahmen unter den vielen wandelnden Klischees. Und die sind eine echte Entdeckung. Die neunjährige Liell zum Beispiel ist ein weiblicher Robin Hood, mit Wams und Schlapphut aus grünem Wildleder. Oder Michelle (zehn Jahre alt) ist Punkerin, mit lila-blau gefärbtem Haar und silbernen Tropfen auf ihren Augenlidern.
Oder die Streifenpolizistin, die mit ihrer verspiegelten Sonnenbrille fast so lässig und abgebrüht aussieht wie die Typen von Miami Vice. Oder Sofie, die einfach «ein verrücktes Mädchen» sein will, wobei sie, zur Bekräftigung ihrer Worte, mit dem Kopf nickt, sodass ihre Perücke aus Millionen pinkfarbener Glitzerfäden Funken zu schlagen scheint.
Aber wer ist denn diese attraktive junge Dame? Sie sieht besonders verwegen aus mit ihren unbändigen, leuchtend roten Haaren. Lässig sitzt sie am Bühnenrand und lässt die Beine unterm langen Rock aus schwarzen und rosafarbenen Schärpen baumeln. Ihren Namen will sie zuerst nicht nennen; sie sei «halt irgend so eine richtige Lady», verrät sie und wirft die wilden Locken zurück. Bei dieser Bewegung verrutscht leicht der Rock, und darunter wird für einen Moment eine Jeans mit Hosenträgern sichtbar. «Ich bin ein Junge!», sagt die Lady grinsend. Und für heute die mutigste Frau von allen.