Alina hat es sich auf der Fensterbank gemütlich gemacht. Erwartungsvoll schaut sie zu Eva Lezzi. Die Autorin ist etwas angespannt, denn sie will zum ersten Mal ihr druckfrisches Kinderbuch den Fünftklässlern der Adolf-Glaßbrenner-Grundschule im Kreuzberger Lesekeller des Diakonischen Werkes vorstellen. »Es ist meine Premiere – und ich bin neugierig, ob euch meine Geschichte gefallen wird«, sagt sie. Bisher war ihr strengster Kritiker ihr eigener achtjähriger Sohn.
In Beni, Oma und ihr Geheimnis verbringt der Achtjährige ein Wochenende bei seinen Großeltern. Die sind in Berlin geboren, mussten während der Nazizeit fliehen und kamen nach der Schoa wieder nach Deutschland zurück. Benis Oma vergisst ganz viel und kann sich an das, was gerade passiert ist, oft nicht erinnern. Beispielsweise wo sein gerade gemaltes Piratenbild ist, wo zwei gleiche Socken sind oder eine Kippa, die er zum Schabbat braucht.
»Was ist eine Kippa?«, fragt ein zehnjähriges Mädchen. »Und was ist Challe?« Eva Lezzi erklärt es ihnen. »Ist die Mutter jüdisch und der Vater deutsch?«, will eine andere Schülerin wissen. »Du kannst in jedem Land jüdisch sein«, sagt Eva Lezzi. Sie sei zwar in den USA geboren, aber in der Schweiz aufgewachsen und kam zum Studieren nach Berlin, ist in der Stadt ihrer Großeltern geblieben und ist jüdisch. Beim Romanhelden Beni ist die Mutter jüdisch, aber sein Vater nicht.
Überleben Eva Lezzi liest weiter. Benis Oma vergisst nicht nur fast alles, sondern sie verlegt auch viel. Nun sucht sie einen Brief von Lucie, die ihre beste Freundin war, als sie als Achtjährige vor den Nazis nach Frankreich emigrierte. Keine durfte damals wissen, dass Benis Oma Jüdin ist – auch ihre beste Freundin nicht. Zu groß war die Angst, entdeckt zu werden. Seine Oma redet viel davon, wie sie die Schoa überlebt hat, sein Opa hingegen erinnert sich nicht gerne und schweigt lieber. Er will nicht an diese Zeit denken.
Die Schüler hören aufmerksam zu. Im Moment haben sie keine Fragen. Erst nach dem nächsten Kapitel, in dem ein fliegendes Spielzeugauto eine Kaktusblüte abreißt, Beni Skateboard fährt und die Oma verschiedenfarbige Socken anzieht und ihm erklärt, dass graue Socken langweilig seien und im Leben nicht alles ordentlich sein kann – wie Benis Mutter es gerne hätte. Da müssen die Schüler lachen und haken interessiert nach.
Schreiben »Wie lange hast du an dem Buch geschrieben?«, will ein Mädchen wissen. Vor ein paar Jahren habe sie bereits diese Geschichte geschrieben. Dann lag das Manuskript noch monatelang in der Schublade, bis sie beschloss, dass das Werk nun als Kinderbuch veröffentlicht werden müsste. Um Verlage dafür zu interessieren, musste sie die Geschichte noch mehrmals bearbeiten, erzählt Eva Lizzi. Außerdem suchte sie noch eine Künstlerin für die Bebilderung und fand diese in Anna Adam.
Es ist ihr erstes Kinderbuch, beantwortet Eva Lezzi die nächste Frage. »Aber ich habe noch mehr in der Schublade«, sagt die 47-jährige Literaturwissenschaftlerin, die Lehraufträge in New York, Potsdam und Zürich hat. Neben ihrer akademischen Arbeit wollte sie immer für Kinder schreiben.
Bereits als Mädchen dachte sie sich Geschichten aus – damals für ihren sieben Jahre jüngeren Bruder. Wenn sie als Babysitterin aushalf – auch in anderen Familien – dann gaben ihr die Kinder ein Stichwort, zu dem sie sich Erzählungen ausdachte. »Meistens war ich am Schluss selbst überrascht, weil ich zu Beginn ja noch nicht wusste, wie die Geschichte ausgehen würde.« Schon immer habe sie viel gelesen und auch noch als 16-Jährige Kinder- und Jugendbücher verschlungen. »Ich bin ohne Fernseher aufgewachsen.«
Erinnern Ob sie schon mal ein richtiges Buch geschrieben hätte, wollen die Schüler dann wissen. Vor neun Jahren, lautet Rezzis Antwort, da sei ihre Dissertation über Zerstörte Kindheit erschienen. In dieser Arbeit beschäftigte sie sich mit autobiografischen Texten, in denen Kindheit und Schoa miteinander verknüpft sind. »Ich habe mich mit diesem Thema lange auseinandergesetzt.«
Auf die Geschichte von Beni und seinen Großeltern sei sie gekommen, weil ihre Mutter eine vergleichbare Kindheit hatte. Sie stammt aus Berlin und hat als kleines Mädchen in Frankreich und der Schweiz überlebt. »Als ich klein war, hat sie mir immer viel von dieser Zeit erzählt«, sagt Eva Lezzi. Nun befürchte sie, dass die Geschichten verschwinden, weil immer weniger Menschen sich an sie erinnern.
»Ich möchte mit dem Buch auch zeigen, dass es eine gemeinsame Möglichkeit gibt, sich an die Nazizeit zu erinnern.« Aber das Buch sei nicht autobiografisch, nur ein paar Ideen habe sie aus ihrer Familiengeschichte aufgegriffen. »Bisher gibt es kein aktuelles Kinderbuch, in dem jüdisches Alltagsleben vorkommt«, sagt sie.
Bei den Kindern habe sie gespürt, dass diese sich bei der Lesung nicht sonderlich für den Holocaust interessieren. Sie fanden wohl die Suche nach dem verschwundenen Piratenbild wichtiger, sagt Lezzi später nachdenklich.
»Hat euch die Geschichte gefallen?«, will nun die Autorin wissen. »Ja«, antworten fast alle. Die meisten fanden die Anekdoten um das Skateboard und den Kaktus am besten. »Mir gefiel die Oma, weil sie immer alles vergessen hat und suchen musste«, sagt Alina, die sich nicht von der Fensterbank weg bewegt hatte. Sie zieht ihre Hosenbeine hoch und zeigt ihr Markenzeichen: zwei verschiedenfarbige Socken.
Eva Lezzi: Beni, Oma und ihr Geheimnis. Hentrich & Hentrich, Berlin 2010, 40 S., 17,90 €