Im Lyrik Kabinett wurde kurz nach seinem 100. Geburtstag des »Jahrhundertdichters« Jehuda Amichai, wie ihn Gastgeber Holger Pils nannte, gedacht. Dazu hatte der Literaturwissenschaftler drei Kenner Amichais eingeladen: Efrat Gal-Ed, eine Spezialistin für Jiddische Literatur, die auch als Übersetzerin aus dem Hebräischen bekannt wurde, Thomas Sparr, der sich als Vermittler deutsch-jüdischer und israelischer Literatur in Deutschland verdient gemacht hat, und Ellen Presser, die 1983 mit dem Aufbau des Kulturzentrums der Israelitischen Kultusgemeinde begann und Amichai schon 1990 bei sich willkommen hieß.
Seit Gründung des Lyrik Kabinetts 1989 als Buchhandlung in der Herzog-Rudolf-Straße nahe dem einstigen Standort der orthodoxen Synagoge Ohel Jakob, deren Umzügen und Umwandlung in eine Stiftung durch die Mäzenin Ursula Haeusgen ist Presser dieser Institution freundschaftlich verbunden. Die Einladung zur Kooperation und Moderation im Gedenken an Jehuda Amichai nahm sie daher gern an.
Ihre erste Frage bezog sich auf Begegnungen. Bei Efrat Gal-Ed, in Tiberias geboren, geschah dies in den 70er-Jahren als Gymnasiastin in Ramat Aviv. Damals gehörten zehn Unterrichtsstunden pro Woche der Lektüre und Literatur-Analyse. Im Abitur wurde sie über ein Amichai-Gedicht, das auf Jom Kippur anspielt, befragt.
Das »El Male Rachamim« kennt in Israel jeder.
Ein anderes, »Gott voller Barmherzigkeit«, erläuterte sie. Das »El Male Rachamim«, 1686 erstmals in einem Gebetbuch mit Ritualen und Gebeten für Sterbende in Mantua erwähnt, kenne in Israel jeder.
Das Gedicht, in dem Amichai die Grundidee des Gebets gewissermaßen auf den Kopf stellt, gehörte zu den dreien, die Gal-Ed gemeinsam mit Christoph Meckel für das erste deutsch-israelische Dichtertreffen im Mai 1989 in Freiburg übersetzte: »Ich, der Rätsel lösen muß gegen seinen Willen, weiß: Wenn Gott nicht voll Erbarmen wäre, gäbe es Erbarmen in der Welt, nicht nur in ihm«. Efrat Gal-Ed hatte den Dichter 1986 in Israel besucht; drei Jahre später war er ihrer Einladung nach Deutschland gefolgt.
Thomas Sparr wiederum war während seiner Zeit an der Hebräischen Universität in Jerusalem nach einer Lesung des Dichters von diesem nach Hause eingeladen worden. Unvergesslich blieb ihm, mit welcher Wärme er, ein »Novize des Hebräischen«, damals empfangen wurde. Presser erinnerte, wie humorvoll und eindringlich Amichai archaische jüdische Motive mit einer – seiner – modernen Ausdrucksweise verband. Frieden sei nichts Sentimentales, der Anfang von Frieden bestünde darin, einander gegenseitig in Ruhe zu lassen. In der Vision von Wolf und Lamm, die nebeneinander überleben könnten, sei das entscheidende Wort »nebeneinander«.
Für Gal-Ed gehört Amichai zu einer Dichtergeneration, die Hebräisch als Ausdrucksmittel annahm, ihre Zerrissenheit sei jedoch existenziell geblieben. Aus Ludwig Pfeuffer, der 1935 aus Würzburg in Eretz Israel ankam, wurde 1948 Jehuda Amichai, was »Mein Volk lebt« bedeutet. Für Sparr wurde der Dichter zur poetischen Stimme Israels, übersetzt sogar ins Arabische.
Jehuda Amichai: »Offen – Verschlossen – Offen«. Gedichte. Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag, Berlin 2020, 160 S., 25 €