Das allererste Mal in einer jüdischen Gemeinde trat Wolf Biermann im Februar 1986 auf. Seinen Liederabend im Kulturzentrum der Münchner Kehilla hatte er damals unter das Motto »Und meine ungläubigen Lippen beten voller Inbrunst zum Mensch, dem Gott all meiner Gläubigkeit« gestellt. Was für eine Fügung, dass er kürzlich bei Suhrkamp ein ganzes Buch mit Gedichten und Texten aus fünf Jahrzehnten unter dem Titel Mensch Gott! herausbrachte und dieses am Ende seiner »Zwiesprache mit Heinrich Heine« im Jüdischen Gemeindezentrum signierte.
Manche brachten ganze Bücherstapel aus ihrer eigenen Bibliothek mit, darunter die vergriffene Erstausgabe von Deutschland. Ein Wintermärchen. Die Aufgabe des Signierens stand am Ende einer One-Man-Show Wolf Biermanns voller Poesie und Melodien. »Mein frecher Cousin Heinrich Heine« war sein unsichtbares, doch höchst präsentes Gegenüber. Gleichzeitig sang, rezitierte und erzählte der Liedermacher Biermann, der diesen Begriff vor langer Zeit erfunden hat – was er inzwischen bereut, weil er von so vielen benutzt wird, die weder Gitarre spielen noch singen können –, aus Heines Leben und gleichzeitig aus seinem eigenen.
themenschwerpunkt Das Kulturzentrum der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern hat Wolf Biermann über die Jahre immer wieder eingeladen, in den Jahren 1993, 1994 und 2000 in Kooperation mit der Münchner Volkshochschule. So auch – coronabedingt im dritten Anlauf – für September 2022 zum verspäteten Abschluss des Themenschwerpunkts »Erinnerung für die Zukunft – Jüdisches Leben in Deutschland«.
Die geniale musikalische Geisterbeschwörung reichte von der Lebenszeit Heines bis zu den Verletzungen und Erfolgen von Karl Wolf Biermann.
Die geniale musikalische Geisterbeschwörung reichte von der Lebenszeit Heines, dessen Ringen um geistige und gesellschaftliche Freiheit in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, bis zu den Verletzungen und Erfolgen von Karl Wolf Biermann. Er ist der Sohn von Emma und Dagobert Biermann, der als Fabrikarbeiter im Rahmen seiner Möglichkeiten die NS-Waffenproduktion sabotierte, die in den 30er-Jahren von Hamburg aus nach Spanien, adressiert an Franco, ausgeliefert wurde. Das brachte ihm als Kommunist sechs Jahre Haft ein – um anschließend als Jude in den Tod nach Auschwitz geschickt zu werden.
Heine verbrachte ein Jahr in München, genauer gesagt: in der Hackenstraße 7, nahe des St.-Jakobs-Platzes. Doch König Ludwig I. erfüllte seine Hoffnung auf eine Anstellung nicht. Biermann ist dankbar dafür. »Können Sie sich vorstellen, was aus Heine geworden wäre, wenn er Professor in München geworden wäre? Schrecklich!«, rief er seinem gebannt lauschenden Publikum im Hubert-Burda-Saal zu, der seit dem Corona-Lockdown im März 2020 nicht mehr so viele Zuhörer beherbergen durfte. Auch Biermann hat eine Verbindung zu Bayern. Nach der Rettung aus dem »Hamburger Feuersturm« 1943 dank seiner Mutter landeten die beiden »ausgebrannten Hamburger« in Deggendorf. Binnen zwei Jahren konnte er perfekt Bayerisch, was allerdings längst und vollständig vergessen ist.
impressionen Unvergessen sind Biermanns Impressionen von seinem Besuch »Auf dem Friedhof am Montmartre« 1979. Die Verse dazu stecken voller Poesie und historischer Kenntnis, heißt es doch in der dritten Strophe: »Und im Kriege, als die Deutschen / An das Hakenkreuz die Seine- / Stadt genagelt hatten, störte / Sie der Name HENRI HEINE! / Und ich weiß nicht wie, ich weiß nur / Das: er wurde weggemacht / Und wurd wieder angeschrieben / Von Franzosen manche Nacht / Auf dem Friedhof am Montmartre / Weint sich aus der Winterhimmel …«
Der Dichter und Sänger hatte sich die Mühe gemacht, ein achtseitiges »Brevier für Heine und Biermann« zu gestalten, das ausgewählte Gedichte der beiden versammelte. Dem Text von Heine »Im traurigen Monat November war’s« von 1844 folgt »Im deutschen Dezember floss die Spree« von Biermann aus dem Jahr 1965. Heine erlebte das Ende der Romantik.
Biermanns Kinderglaube an ein anderes, besseres Deutschland kam ihm gründlich abhanden.
Biermann erlebte das Ende der DDR; sein Kinderglaube an ein anderes, besseres Deutschland, der ihn als Jugendlichen 1953 aus Hamburg in die DDR geführt hatte, kam ihm gründlich abhanden. Heine zu lesen – dies hatte ihm dabei geholfen. Er zitiert Brechts »Lob des Kommunismus«. Sein Kommentar dazu: »Wie kann man so ein geniales Gedicht schreiben, bei dem jede Zeile falsch ist?« Inzwischen glaubt er nicht mehr an das irdische Paradies: »Die heile Heimat Utopie hab’ ich verloren.«
ukraine-krieg Biermann, der am 15. November 1936 geboren wurde, schrieb eine »Kriegs-Elegie im 86. Jahr«, in der es heißt: »’s ist Krieg – nun schließt mein Lebenskreis / Sich höllenwärts. Noch lach ich, mach / Mein Ding. Dir schweig ich. Und sing / Trotz alledem mein Lied.« Klar, dass ein so hochpolitischer Mensch den Krieg Russlands gegen die Ukraine in seinem Vortrag nicht ausklammerte. Waffenlieferungen Hitlers an Franco hatten den Diktator im Spanischen Bürgerkrieg 1937 maßgeblich unterstützt.
»Mindestens so zuverlässig wie Hitler für Franco sollten wir doch mit Waffenlieferungen für die Ukraine sein.« Und stimmt in seinem Lied »Vaterseelenallein im Dritten Weltkrieg« an: »Ein Friedenstauber, wer das heut noch ist / Wie falsch tut der jetzt seine Friedenspflicht!« Nach zweieinhalb grandiosen Stunden endete der Abend mit Standing Ovations.