Anna Adam ist in ihrem Element. Die Berliner Künstlerin hockt auf einem Feld in Berlin-Gatow, der Schweiß rinnt ihr von der Stirn, die Sonne brennt. Doch geduldig holt sie mit einer kleinen Schaufel nach und nach Karotten aus der Erde, schüttelt sie ab und legt sie in den Eimer neben sich, bis er gut gefüllt ist.
»Nicht schlecht«, sagt sie über ihre Ausbeute und schaut prüfend über das weitläufige Feld. Dann wässert sie die Tomaten und wirft abschließend noch einen Blick auf die fast reifen Salatköpfe. Am Ende des Tages wird sie mehr als vier Stunden auf dem einen Hektar großen Acker gearbeitet haben.
Seit über drei Jahren treffen sich rund 20 Frauen und Männer des jüdischen Vereins Ohel Hachidusch regelmäßig auf dem idyllisch gelegenen Acker und dem dazugehörigen Gutshof in Gatow. So auch am vergangenen Freitag zum »jüdischen Valentinstag« Tu be Aw. In einer Gesellschaft, die immer schneller getaktet ist und in der alle nach möglichst viel Besitz zu streben scheinen, haben die »Ohelista«, wie sie sich selbst spaßeshalber nennen, hier draußen, 20 Autominuten von der Stadtmitte entfernt, einen Zufluchtsort gefunden.
Zusammen mit ihrer Lebensgefährtin Anna Adam gründete die Kantorin Jalda Rebling die Initiative im Jahr 2007 als, wie sie betonen, bewusste Alternative zu den anderen Gemeinden, auch um orthodoxe, konservative und liberale Elemente des Judentums miteinander zu vereinen. »Hier kann jeder herausfinden, wie gelebtes Judentum auch aussehen kann. Und natürlich wollten wir auch einfach einen schönen Ort schaffen«, sagt Rebling.
Zuvor hatte sie sich lange Zeit in Berlin fremd gefühlt. »Das war irgendwie nicht mehr meine Stadt, weil sich schlagartig so viel verändert hatte.« Die Mitglieder von Ohel Hachidusch treffen sich ganz bewusst abseits von Berlin, um sich zurückzuziehen, die Ruhe zu genießen und das Judentum auf ihre ganz eigene Weise zu leben. »Wir sind eine Initiative, die richtungsübergreifend und aus der Tradition schöpfend den Weg in die Moderne sucht. Wir befinden uns auf einer Reise«, erklärt Jalda Rebling, die Kantorin des Ohel.
KArotten Die Verbindung von Judentum und dem Gedanken, etwas zu pflanzen und in der Natur zu sein, ist für Adam und Rebling ganz selbstverständlich. »Sukkot zum Beispiel ist ein Erntedankfest. Das muss draußen in der Natur gefeiert werden«, sind sie überzeugt.
»Und natürlich wäre es für uns viel bequemer, wenn wir unsere Lebensmittel ganz normal im Supermarkt kaufen würden. So gesund wie die hier vom Acker sind die aber ganz bestimmt nicht.« Was sich für viele Großstädter wie Zeitverschwendung anhört, ist für Adam und Rebling Entspannung, eine Möglichkeit, vom stressigen Alltag abzuschalten.
Das sieht Daniel Wiesenfeld ganz ähnlich. Der Künstler wohnt in Kreuzberg und fährt regelmäßig mit seiner Frau Ruth und den beiden Kindern nach Gatow. Er hat bislang immer in Großstädten gewohnt und schätzt deshalb umso mehr, so schnell im Grünen zu sein. »Wir haben uns fast alle vollkommen vom Ursprung entfernt. Jeder sollte wissen, woher sein Essen stammt.« Das Arbeiten auf dem Feld, die Natur, die gemeinsamen Schabbatfeiern sind für ihn »ein Kurzurlaub mitten im Alltag«.
Und auch seinem Sohn Ben gefallen die Ausflüge aufs Land. Der Sechsjährige läuft quer über den Acker, macht mal halt bei den Kartoffeln und lässt sich dann von einem der Erwachsenen eine Karotte schälen. »Ich finde es schön hier«, sagt der Junge. »Die Karotten hier sind gelb und nicht orange, schmecken aber viel besser als im Supermarkt.« Ihm gefällt es, insbesondere an den heißen Tagen aus dem quirligen Kreuzberg rauszufahren und mitten in der Natur zu sein.
Religion Unterstützt und ermöglicht hat die Ohel-Treffen Rita Reinicke. Dort, wo sich heute der Acker befindet, hat sie bis vor ein paar Jahren noch Pferde gezüchtet. Bei ihrem Engagement für den Verein ist der 50-Jährigen der interkonfessionelle Austausch besonders wichtig.
Deswegen hat sie im großen Garten des Gutshofes ein Botanikum gepflanzt, das in die vier Bereiche Judentum, Buddhismus, Christentum und Islam aufgeteilt ist. Dort sind nur Pflanzen angebaut, die in den entsprechenden Texten der jeweiligen Religion erwähnt werden. »Die unschuldige Pflanze«, sagt Reinicke, »ist der Obergriff bei dem ganzen hier. Warum soll in der Welt nicht gelingen, was hier im Garten so toll funktioniert?«
In der jüdischen Ecke des Gartens wachsen Salbei und Granatäpfel. Im buddhistischen Bereich steht ein Ginko-Baum, im christlichen ist Wein angepflanzt und in der islamischen Ecke Minze. »Hier herrscht das Prinzip der friedlichen Koexistenz. Nur wenn das argentinische Eisenkraut wieder einmal die jüdische Abteilung zu erobern versucht, mache ich kurzen Prozess und greife zur Schere«, sagt sie augenzwinkernd.
Einmal angefangen, kommt Reinicke nicht mehr aus dem Schwärmen heraus. »Das ›Gatow-Feeling‹ ist einmalig«, sagt sie. »Wenn ich von der Heerstraße in die Gatower Straße abbiege, wird auf einmal alles weit und grün, man ist in der Natur und kann wieder durchatmen. Ein kleiner Garten Eden, ein Stück Heimat.«
So weit mag die bodenständige Rebling nicht gehen. »Heimat, Heimat, geht’s vielleicht auch eine Nummer kleiner?« Überall da, wo die Tora sei, befindet sich ihre Heimat, erklärt sie. Im geografischen Sinne könne sie mit dem Heimatbegriff überhaupt nichts anfangen – und dann, nach einer kurzen Pause, und etwas ernster, mit Blick auf das Feld, auf dem Anna Adam mittlerweile wieder etwas umgräbt, sagt sie: »Aber schön ist es hier doch.«