Es ist eine friedliche Szene: Zwei Kinder stehen an einem Tümpel. Sie haben altmodische Schultaschen dabei, das Mädchen hat die Arme hinter dem Rücken verschränkt, der Junge scheint die Enten zu füttern, einer seiner Arme ist durch die Wurfbewegung verwischt. Das Bild ist Teil eines schwarzen Papierbogens, franst aus in die schwarze Masse, die es umgibt, in der sich Fasern und Herbstlaub finden. Es wirkt ein bisschen, als läge ein verlorenes Foto auf dem regennassen, herbstlichen Asphalt.
Die namenlose Papierarbeit der israelischen Künstlerin Chava Pressburger ist Teil eines Bilderzyklus mit dem Titel »Mein Bruder und ich« und ist bis zum 8. November im Kurfürstlichen Gärtnerhaus in Bonn zu sehen. Vier Zyklen mit Papierarbeiten werden dort insgesamt ausgestellt. Danach wandert die Ausstellung weiter nach Köln, bereits im Sommer war sie in Leipzig zu sehen.
Was sie so sehenswert macht, ist zum einen, dass die Werke der Schoa-Überlebenden Pressburger sich so leise, so ohne Wut mit Gewalt und Terror auseinandersetzen. Zum anderen ist es die Technik, die Chava Pressburger für diese Auseinandersetzung gewählt hat: das Schöpfen von Papier.
karton Die ausgestellten Werke sind allesamt handgeschöpfte Papierbögen, in die die Künstlerin andere Materialien eingearbeitet hat: getrocknete Blätter, Halme und Pflanzenfasern, Zeitungsausschnitte und Kopien von Fotografien. Das Foto der beiden Kinder am Teich etwa zeigt die Künstlerin selbst und ihren Bruder. Dadurch, dass Pressburger auch die Pulpe aus verschiedenen Materialien selbst herstellt, werden ihre Arbeiten manchmal so dick und plastisch wie Karton und sind ein andermal so dünn, dass man fürchten muss, ein Windhauch würde sie zerreißen.
Die Pflanzen, die Pressburger für ihre Pulpe verwendet, sammelt sie auf langen Spaziergängen selbst. Für sie hat das auch eine spirituelle Dimension. »Meine Kunst wird von der Tatsache beherrscht, dass ich mein eigenes Papier herstelle. Losgelöst von dem praktischen, leistungsorientierten Lebenskonzept betrachte ich das Leben selbst und versuche, die Harmonie zwischen mir, der Natur und dem Universum zu schaffen«, beschreibt sie ihre Arbeit.
Diese Harmonie versuche sie dadurch zu erreichen, indem sie Pflanzen in Papier verwandle – auf diesem Weg entschlüssele und artikuliere sie die geheime Sprache der Natur und entleihe sie sich für ihr Kunstwerk, sagt die 89-jährige Künstlerin.
»Die Zyklen stehen in engem Zusammenhang mit Chavas Biografie. Sie wurde Zeit ihres Lebens von Gewalt begleitet«, erklärt Kuratorin Ilka Wontschik. »In ihren Arbeiten setzt sie sich mit Gewalt und Terror auf so zarte, leise, lyrische Weise auseinander, das habe ich so noch nie gesehen.«
Einige der prägenden Ereignisse ihres Lebens, die sich immer wieder in Pressburgers Kunst spiegeln, sind ihre Zeit im Konzentrationslager Theresienstadt und vor allem die Ermordung des geliebten Bruders Petr Ginz.
Weil in ihren künstlerischen Arbeiten derart viele Erinnerungen und Gefühle stecken, verkauft Chava Pressburger ihre Werke nicht. Sie zeigt sie zwar gerne her, will sie aber nicht weggeben.
Die Tatsache aber, dass sich Pressburger immer konsequent dem Kunstmarkt verweigert hat, ist sicherlich ein Grund, warum die Künstlerin trotz ihrer Teilnahme an zahlreichen Gruppen- und Einzelausstellungen in Tel Aviv, Jerusalem, Bern und Hamburg immer noch recht unbekannt ist.
geschwister 1930 als Tochter eines jüdischen Vaters und einer christlichen Mutter in Prag geboren, wächst Eva Ginz, wie sie damals noch heißt, gemeinsam mit ihrem älteren Bruder Petr zunächst in behüteten bürgerlichen Verhältnissen auf. Es ist eine glückliche Kindheit zwischen Büchern und Antiquitäten, mit Reisen aufs Land im Sommer und Schlittschuhlaufen im Winter.
Sie hat ein sehr enges Verhältnis zu ihrem großen Bruder Petr, einem hochbegabten Jungen, der viel zeichnete und bereits mit elf Jahren seinen ersten Roman verfasste. Die Eltern förderten ihren talentierten Sohn, die kleine Schwester bewundert ihn sehr. »Sie selbst sagt: Mein Bruder war der Begabtere von uns beiden«, bemerkt Ilka Wontschik und wendet ihrerseits ein: »Das weiß man eben nicht, weil der Bruder als Erwachsener leider nicht tätig werden konnte.« Denn die schöne Kindheit endet im März 1939, als die Wehrmacht Tschechien besetzt.
Der Vater genießt durch seine Ehe mit einer Nichtjüdin etwas Schutz, der sich aber nicht auf die Kinder erstreckt. Im Februar 1942, nur wenige Tage nach seinem 14. Geburtstag, wird Petr Ginz nach Theresienstadt deportiert. Dort gibt er gemeinsam mit ein paar anderen Jungen im Geheimen die Jugendzeitschrift »Vedem« heraus. Er liest, schreibt und zeichnet viel.
Als Eva Ginz im Mai 1944 ebenfalls nach Theresienstadt deportiert wird, trifft sie ihren Bruder wieder. »Er hat sich sehr verändert, er ist viel ernster geworden«, erinnert sich die Künstlerin in einem Interview für die Gedenkstätte Yad Vashem. In dem Konzentrationslager, wo auch andere Familienmitglieder interniert sind, ist er ihr eine große Stütze.
brot Am 28. September 1944 endet ihre gemeinsame Zeit. Petr wird gemeinsam mit seinem Cousin Pavel nach Auschwitz deportiert. Eva schafft es noch, ihm durch das Zugfenster ein Paar Scheiben Brot zuzustecken. Sie schreibt in ihr Tagebuch: »Ich presste mich durch die Menge, kroch unter dem Seil her, das die Menge von den Baracken trennte und reichte Petr das Brot durch das Fenster. Ich hatte genug Zeit, seine Hand durch die Fenstergitterstäbe zu halten, bis mich ein Wachmann wegführte. Letztlich ist alles gut gegangen. Jetzt sind die Jungen nicht mehr da, und das Einzige, was von ihnen übrig geblieben ist, sind ihre leeren Betten.«
Sie wird Petr nie wiedersehen. Der schmächtige Junge wird in Auschwitz bereits an der Rampe aussortiert und in den Gaskammern ermordet. Doch in Theresienstadt weiß Eva nichts vom Schicksal ihres Bruders. Als ab April 1945 die Evakuierungstransporte aus Konzentrationslagern in Theresienstadt eintreffen, geht Eva immer wieder an den Bahnhof. Sie hofft, unter den bis auf die Knochen abgemagerten Männern, deren Gesichter vom Hunger entstellt sind und die sich oft noch nicht einmal ohne Hilfe aufrichten können, ihren Bruder zu entdecken – vergebens.
Eva und ihr Vater, der im Februar 1945 deportiert wurde, überleben in Theresienstadt, sie gehen nach der Befreiung zurück nach Prag, wo die Mutter auf sie wartet. Es wird ein trauriges Wiedersehen, weil Petr fehlt. Nach vielen Monaten des Wartens schreibt Eva 1947 einen einzigen letzten Satz in ihr Tagebuch aus Theresienstadt: »Petr ist nicht zurückgekehrt.«
astronaut Eine Zeichnung von Petr Ginz reiste später aber sogar bis zum Mond. Als im Jahr 2003 der israelische Astronaut Ilan Ramon an Bord der US-Raumfähre Colombia ging, hatte er eine Reproduktion von Petrs Zeichnung einer Mondlandschaft dabei. Die hatte er ausgesucht – um bei seinem Flug ins All an die Opfer der Schoa zu erinnern. Die Reise endete tragisch: Die Colombia brach beim Wiedereintritt in die Erdatmosphäre auseinander, und alle Insassen kamen ums Leben. Durch die Öffentlichkeit, die die Reise eines seiner Werke herstellte, tauchten auch Petrs Tagebücher wieder auf. Der Besitzer eines Hauses in Prag hatte sie auf dem Dachboden gefunden und übergab sie seiner Schwester – allerdings nicht, ohne dafür eine Stange Geld zu verlangen.
Nach dem Krieg kann Eva Ginz den Gedanken, wieder in einer Diktatur zu leben, nicht ertragen. Deshalb verlässt sie Prag – gemeinsam mit ihrem künftigen Ehemann Jindrich Pressburger – und wandert zunächst nach Frankreich und später nach Israel aus, wo sie ihren Namen von Eva in Chava ändert.
Die Beschäftigung mit der Kunst ist eine Kontinuität in ihrem Leben, doch ein formelles Studium kann sie aufgrund ihrer Biografie nie abschließen, obwohl sie Kunsthochschulen in Prag und Paris besucht. Immer wieder nimmt sie auch Privatunterricht bei Künstlern und knüpft viele Kontakte.
Die Technik des Papierschöpfens erlernt sie im Visual Arts Center in Beer Sheva, wohin sie mit ihrem Mann Ende der 50er-Jahre umzieht. Seit mehr als 30 Jahren ist das nun ihre bevorzugte Ausdrucksform. Neben den Bögen, wie sie jetzt in Deutschland zu sehen sind, stellte sie auch zahlreiche Buchskulpturen her.
Die Ermordung des Bruders begleitet sie auch in ihrem Leben als Künstlerin immer. »Es war ein großer Verlust für mich, Petr nicht als Erwachsenen zu kennen. Und ich bin sicher, dass es auch ein Verlust für die Menschheit war«, sagt Chava Pressburger Jahre später in einem Interview für die Gedenkstätte Yad Vashem.
In dem Bilderzyklus »Mein Bruder und ich«, der auch in Bonn zu sehen ist, verarbeitet sie Familienfotos aus ihrer Kindheit zusammen mit Bildern der abgemagerten Auschwitz-Rückkehrer, unter denen sie einst ihren Bruder suchte. Normalität und Terror stellt sie einander gegenüber.
zäsur Gewalt und Terror sind aber auch abseits der Schoa immer wieder ein Thema in Pressburgers Arbeiten. Aktueller, aber nicht weniger beeindruckend ist der Zyklus »Die Narben in unserem Leben«. Die Künstlerin erlebte den Anschlag auf das World Trade Center am 11. September 2001 als eine Zäsur und beschloss, zu dieser neuen Form des Terrors zu arbeiten. »Art Journalism« nennt sie das. Dabei bezieht sie sich nicht nur auf die Anschläge in New York, sondern auf Anschläge in der ganzen Welt – auch in ihrer Heimat Israel. »Mithilfe meiner Kunst versuche ich, daran zu erinnern, dass die tragischen Konsequenzen terroristischer Anschläge niemals vergessen werden dürfen und uns vor neuer Gewalt warnen sollten.«
Die beiden anderen Zyklen sind weniger offensichtlich politisch, etwas abstrakter. Der Zyklus »Im Garten der Erinnerung« ist in Zusammenarbeit mit der rumänisch-amerikanischen Lyrikerin und Asienwissenschaftlerin Vera Schwarcz entstanden. Zu den einzelnen Papierbögen sind jeweils Gedichte in englischer Sprache gestellt. Die Arbeiten der beiden Frauen nehmen aufeinander Bezug, ohne dass der Beobachter klar sagen kann, was zuerst da war: das Gedicht oder das Bild.
Die Künstlerin hat ein fließendes Verständnis von ihrer Kunst, sie sieht ihre Arbeiten nie als abgeschlossen an, sondern ändert immer wieder etwas ab, gruppiert sie um. »In diesem Zyklus ist die Arbeit so herum, wie ich sie gehängt habe«, erklärt die Kuratorin Ilka Wontschik, als sie vor dem Bild mit dem Titel »Silent Sand« steht, »aber sie hat diese Arbeit auch andersherum in einen anderen Zyklus eingebunden«, sagt Wontschik. »Deswegen sind ihre Werke auch nie datiert. Viele Zyklen sind wie lebende Geflechte. Sie hat sie nie starr gehalten.«
Und das ist vielleicht das Beeindruckendste an den Arbeiten von Chava Pressburger: dass in ihnen keine Wut zu sehen ist. »Im Gegensatz zu den meisten Holocaust-Werken hat sie einen empathischen Blick auf die Geschichte. Sie zeigt den Menschen in der Katastrophe«, sagt Ilka Wontschik. Und: »Sie wünscht sich nichts sehnlicher, als dass wir aus der Geschichte lernen.«