Sie sind alle zwischen Anfang 20 und Mitte 30, wohnen in Deutschland, sind jüdisch, weisen eine Migrationsgeschichte auf und wollen über diese sprechen – die zwölf Protagonisten der am Dienstag in der Stiftung Neue Synagoge Berlin – Centrum Judaicum eröffneten Ausstellung #Babel 21. Migration und jüdische Gemeinschaft. Initiiert wurde das Projekt vom jüdischen Ernst Ludwig Ehrlich Studienwerk (ELES).
Mit der Ausstellung betreten ELES und seine Kooperationspartner Neuland, sowohl methodologisch als auch politisch. Denn erstmals wird eine wissenschaftliche und visuelle Momentaufnahme der Erfahrungen junger Menschen aus dem Umfeld des jüdischen Studienwerks gezeigt, die über ihre vielschichtigen Herkünfte, Identitäten sowie über ihr jüdisches Selbstverständnis in Deutschland und Europa reflektieren. Auch die Migrations- und Fluchtbewegungen der letzten Jahre werden thematisiert.
Herz Fünf Gedankenräume zu den Themen Heimat, Vielfalt, Migration, Religion und Familie bilden das Herz der Ausstellung. In kurzen Interviews, aufgenommen im privaten Umfeld, reflektieren die jungen Menschen über ihre persönlichen Lebenswege. Die einen sind in Deutschland geboren, andere in Israel, Russland oder Brasilien. Einige verstehen sich als orthodox, andere als liberal oder atheistisch. Manche sind mit Nichtjuden liiert, andere mit zum Judentum Übergetretenen. Diesen Pluralismus der jüdischen Gemeinschaft aufzuzeigen, sei eines der Ziele von #Babel 21, sagt Kurator und ELES-Referent Dmitrij Belkin.
»Außerdem lautet die These der Ausstellung, dass die neue jüdische Gemeinschaft in Deutschland eine Einwanderergemeinschaft ist« – eine, die nicht mehr nur mit der Schoa oder mit dem Antisemitismus identifiziert werden wolle. »Ihre Hintergründe sind natürlich viel vielfältiger.« Ihr Leben und ihr Selbstverständnis sei geprägt von individuellen kulturellen, religiösen und sprachlichen Erfahrungen.
Dass das Projekt in einer Ausstellung münden würde, hatten die Macher anfangs nicht gedacht. »Wir setzen uns bei ELES immer Schwerpunktthemen, zuvor hatten wir mit Stipendiaten das Thema Erinnerung behandelt«, sagt Jo Frank, Geschäftsführer des Begabtenförderungswerks. Dann rückte das Thema Migration in den Fokus. »Die Bedeutung der Ergebnisse war uns zu Beginn gar nicht klar gewesen. Doch sie zeigen einen neuen Blick auf die jüdische Gemeinschaft heute.«
realität Was ist dieser Generation wichtig? Marina Rudman, die mit ihrer Familie in den 90er-Jahren aus St. Petersburg nach Wuppertal migrierte, hat in Deutschland ihre jüdischen Wurzeln und Traditionen erst richtig kennengelernt. Aus einem »theoretischen Konstrukt« sei eine »lebendige Realität« geworden, schreibt sie im Begleitheft zur Ausstellung. Egal, in welcher deutschen Stadt sie bisher gelebt habe – stets habe sie Kontakt zur jeweils ansässigen jüdischen Gemeinde gesucht.
Akiva Weingarten, 1994 in New York geboren, erzählt, wie er seine ultraorthodoxe Familie verließ, »um ein freieres Leben zu führen«. Dass er in Berlin landete, war einem günstigen Flugticket geschuldet sowie der Tatsache, dass die Hauptstadt im Vergleich zu anderen Städten günstiger sei. Heute ist Akiva Weingarten Rabbinatsstudent am Abraham Geiger Kolleg in Potsdam und will liberaler Rabbiner werden.
Eine andere Geschichte erzählt Meytal Rozental. Die 33-Jährige wuchs in Israel auf, ihre Vorfahren stammen aus Ungarn und Rumänien. Seit sechs Jahren lebt sie in Berlin. Mit der jüdischen Gemeinschaft habe sie in Deutschland nichts zu tun, »auch mit der israelischen als solchen nicht«. Besonders wohl fühle sie sich in Neukölln. Dort seien alle auf irgendeine Weise fremd. »In dieser Fremdheit habe ich nicht das Gefühl, dass mir von außen eine Zugehörigkeit, eine Identität zugeschrieben wird«, sagt sie.
podium Einen Tag vor der Ausstellungseröffnung von #Babel 21 saß die Kulturwissenschaftlerin mit auf dem Podium in der Stiftung Neue Synagoge Berlin – Centrum Judaicum, um gemeinsam mit unter anderem Thomas Krüger, Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung, und Daniel Botmann, Geschäftsführer des Zentralrats der Juden in Deutschland, über »Migration und die Zukunft der jüdischen Gemeinschaft« zu diskutieren.
Für einen regen Austausch sorgte beispielsweise eine These des Wahl-O-Mats, den die Bundeszentrale für politische Bildung vor der Bundestagswahl am 24. September online gestellt hatte: Stellt der Völkermord an den europäischen Juden weiterhin einen zentralen Bestandteil der deutschen Erinnerungskultur dar? Dass diese Frage überhaupt gestellt werde, habe ihn verwundert, meinte Daniel Botmann. Das Thema sei indiskutabel.
»Ja, es gab dazu lange einen Konsens, heute ist dieser allerdings aufgekündigt worden«, entgegnete Thomas Krüger. Die Augen davor verschließen dürfe man nicht. Sie habe die Frage nicht überrascht, erwiderte hingegen Meytal Rozental. Auch junge Juden wollten sich nicht ständig auf die Schoa reduziert wissen.