Frau Cazés, im Sammelband »Sicher sind wir nicht geblieben«, dessen Herausgeberin Sie sind, haben zwölf Jüdinnen und Juden verschiedener Generationen und mit ganz unterschiedlichen Hintergründen Texte geschrieben. Was verbindet die Autoren miteinander?
Sie alle haben eine bestimmte Perspektive auf jüdisches Leben in Deutschland. Die Positionen, die sie aus dieser Perspektive heraus entwickelt haben, sind in Teilen sehr unterschiedlich und auch kontrovers. Trotzdem überschneiden sie sich an ganz vielen Stellen. Das war mir bei der Auswahl der Autorinnen und Autoren wichtig. Der rote Faden des Buches sind die Fragen, die ich mir zum Jüdischsein in Deutschland stelle und die ich die Autoren gebeten habe zu beantworten.
Welche Fragen waren das?
Ein paar Beispiele: Was bedeutet Deutschland für dich? Warum lässt uns die Schoa nicht los? Was empfindest du als Ressource an deinem Jüdischsein? Was könnte die jüdische Community sein? Die ursprünglichen Fragen – und das habe ich mir auch so gewünscht – haben in den Antworten eine ganz eigene Dynamik entwickelt. Die unterschiedlichen Texte sprechen aber zueinander, und das war mir am wichtigsten.
Ist das Buch der Versuch, die Vielfalt des Judentums in Deutschland abzubilden?
Nein, das halte ich für gar nicht möglich. Jüdisches Leben ist fast schon so divers, wie es eben jüdische Menschen in diesem Land gibt. Der Sammelband hat den Anspruch, eine Bandbreite an Perspektiven sichtbar zu machen, und zwar zum einen solche, die bekannt sind und im öffentlichen Raum stattfinden, dann aber auch solche, die stillere Facetten des jüdischen Lebens abbilden. So beleuchtet beispielsweise der Text der Journalistin Erica Zingher »Geschenke kosten« das Thema der unsichtbaren Jüdinnen und Juden in Deutschland, diejenigen, die nicht medienaffin sind und denen niemand zuhört.
Sie schreiben in Ihrem einleitenden Essay, die Realität jüdischen Lebens in Deutschland wird kaum beachtet. Was ist es, was die Mehrheitsgesellschaft übersieht?
Es wird sich zum Beispiel kaum mit der Frage auseinandergesetzt, wie sich jüdisches Leben nach 1945 von dem vor der Schoa unterscheidet. Dasselbe gilt für strukturelle Altersarmut sowie die Migrationsbiografien und die damit einhergehenden Brüche vieler Juden in Deutschland. Auch die Frage danach, wie die Schoa in die dritte Generation hineinwirkt, spielt kaum eine Rolle in der öffentlichen Wahrnehmung.
Sie sprechen von einem »immerwährenden Spagat«, den Juden hierzulande machen.
Diesen Spagat sichtbar zu machen, ist ein Anliegen des Buches. Im Festjahr »1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland« wurde immer wieder betont, wie schön es ist, dass jüdisches Leben hier wieder blüht. Das ist auch richtig. Zur Vollständigkeit des Bildes gehört aber auch die Verunsicherung, die Juden in diesem Land spüren.
Ihre Heimat ist Deutschland nicht, schreiben Sie. Wo ist Ihre Heimat dann?
Die Frage kann ich gar nicht richtig beantworten. Das Konzept »Heimat« ist mir einfach fremd. Aber auch das beantworten jüdische Menschen alle unterschiedlich.
Es geht in dem Buch viel um das Hadern mit Deutschland und damit, hier nicht so akzeptiert zu werden, wie man ist. Was ist die positive Vision jüdischen Lebens in diesem Land?
In den Texten steckt ein realistisches, vielleicht pessimistisches Moment, aber auch ein utopisches Element, ein Element der Hoffnung und der Selbstbestimmung. Die Texte zeigen auch, dass die Autoren nicht nur jüdisch, sondern dass sie ganz viel sind. Das macht die Stärke dieser Texte aus. Sie sind an manchen Stellen sehr vulnerabel, strahlen aber gleichzeitig auch eine unglaubliche Stärke aus. Sie sind nicht einfach eine finstere Prognose über die Zukunft jüdischen Lebens in Deutschland, sondern sind von viel Leichtigkeit und Witz getragen. Auch bei Texten, die einen tiefen Schmerz beschreiben, muss man manchmal laut lachen. Und es gibt Texte, die sind mutig und kontrovers und artikulieren Positionen, denen ich persönlich gar nicht zustimmen würde. Mir war als Herausgeberin wichtig, diese Streitbarkeit als Teil jüdischen Denkens und jüdischen Seins sichtbar zu machen.
»Sicher sind wir nicht geblieben« ist im S. Fischer Verlag erschienen und versammelt Beiträge von Richard C. Schneider, Mirna Funk, Marina Chernivsky und anderen. Mit der Herausgeberin und ZWST-Mitarbeiterin Laura Cazés sprach Joshua Schultheis.