Als die Studentin Ayala Weissman beschloss, nach Berlin zu gehen, um ihr Deutsch zu verbessern, dachte sie sofort, dass der israelische Nationalfeiertag hier wohl ganz anders sein würde als zu Hause.
Denn die Atmosphäre von Geva, einem Kibbuz im Norden Israels, in dem sie bislang jedes Jahr Jom Haazmaut mit ihrer Familie feierte, würde sie in Berlin nicht so einfach nachahmen können: mit Picknick, Gespräche über Politik und dem Gefühl, als israelische Familie gemeinsam glücklich zu sein.
Die 23-Jährige erkannte schnell: Ohne Familie würde eine solche Feier nicht funktionieren. Bis zu dem Tag, an dem sie das ehemalige Konzentrationslager Sachsenhausen besuchte: »Das erste Mal an so einem Ort zu sein, hat mir eine neue Perspektive gegeben. Plötzlich war ich sehr stolz, dass wir trotz allem heute ein Land haben, das ich liebe und nach dem ich mich sehnen kann«, sagt Ayala, deren Erinnerungen an ihren Militärdienst in Israel noch sehr frisch sind.
Nach dem Besuch in Sachsenhausen änderte die Studentin also ihre Meinung: Diesen Jom Haazmaut wird sie mit ihren Freunden in Berlin feiern. Mit allem, was dazugehört.
Ferne Liebe Für Tslil Tal Rotbart ist die Frage nach der Bedeutung von Jom Haazmaut fast so kompliziert wie eines seiner chemischen Experimente, an denen er gerade im Rahmen eines wissenschaftlichen Projektes an der Humboldt-Universität sitzt. »Auf der einen Seite ist es nicht einfach, an diesem Tag so weit weg von zu Hause zu sein«, sagt Rotbart.
»Man möchte gern zurück zu Familie und Freunden.« Andererseits, betont er, sei es irgendwie leichter, von Berlin aus auf Israel zu schauen. »Die Entfernung wirkt beruhigend, denn die Situation dort macht mich traurig.« Schließlich liegt dem jungen Mann die Zukunft des Landes am Herzen.
Michal Blum, die als Grafikdesignerin arbeitet und deren Job viel mit Harmonie zu tun hat, war nie ein wirklicher Fan von Jom Haazmaut. Denn dieser fröhliche und ausgelassene Tag, an dem man sich in Israel zum Grillen trifft und mit Freunden feiert, folgt direkt auf Jom Hasikaron, den Tag, an dem man der gefallenen Soldaten und der Terroropfer gedenkt – leise und traurig ist er. Und diese beiden Bedeutungen stehen wie ein scharfer Kontrast gegenüber – sind also gar nicht harmonisch.
»Viele Israelis, die man hier in Berlin trifft, haben nicht viel mit nationalem Gedenken zu tun. Wir sind eigentlich hierher gekommen, weil wir davor fliehen wollten«, sagt Michal. Sie ist eine von circa 20.000 jungen Israelis, die in Berlin leben und für die die Stadt eine ganz besondere ist. »Allerdings motiviert Berlin nicht gerade zur Heimattreue. Die Leute können hier sein, wie sie wollen, was sie wollen, und mit wem sie wollen«, erzählt Blum, die an Berlin vor allem schätzt, dass sie hier Menschen trifft, denen sie in Israel nie begegnen würde.
Für Tslil Tal Rotbart hat sogar das Wort »Patriotismus« seine Bedeutung geändert, nachdem er aus Israel in die deutsche Hauptstadt kam. »In Israel habe ich nicht immer Lust auf patriotische Gefühle. In Berlin ist es einfacher, patriotisch zu sein; also werde ich in diesem Jahr bestimmt mit meinen Freunden feiern«, sagt Tslil. Und gibt schnell zu, dass es ja schon sehr paradox sei, gerade in Deutschland so zu empfinden, in dem Land, in dem vor 72 Jahren die Vernichtung der Juden beschlossen wurde.
Kritik Mati Schemoelof, der als freier Autor in Berlin arbeitet, hat die Einladung zu einer Feier, auf der er Gedichte lesen sollte, abgesagt. Der 41-Jährige steht der israelischen Politik kritisch gegenüber. »Israel ist heute kein sicheres Land, um dort zu leben. Wir tragen die Kollektivverantwortung für die Fehler unserer Politiker. Sich nach einem solchen Land zu sehnen, fällt schwer«, gibt Mati zu.
Michal und Mati können Fahnen und nationaler Euphorie nicht viel abgewinnen. Sie wollen sich mit palästinensischen Freunden treffen, etwas trinken gehen und sich einander das gleiche wünschen: »Dass es eines Tages zwei Staaten gibt und wir uns zum Essen verabreden können, ohne Checkpoints zu passieren.«
Ayala und Tslil hingegen werden mit ihren Freunden Picknicks und Abendessen organisieren, zusätzlich will Ayala alte Dokumentationen anschauen, zum Beispiel von der Gründung des Staates. Die hat sie bereits als Kind mit ihrer Oma angeschaut. Dieses Jahr wird Ayala ohne ihre Großmutter und deren bewegende Geschichten feiern.