Ruth Dräger sitzt am Tisch vor einem Stück Sahnetorte und unterhält sich angeregt mit Peter Burmester. Sie lachen und scherzen, Peter Burmester sagt: »Ich kann gut Kuchen backen, der schmeckt noch besser als dieser. Das nächste Mal bringe ich dir ein Stück von zu Hause mit.« Sie willigt ein.
Sie sitzen im »Begegnungscafé« in Hamburg. Es ist kein gewöhnliches Kaffeehaus. Hier, in einem Gebäude inmitten einer der schönsten Grünanlagen der Stadt, treffen sich einmal im Monat ehemals Verfolgte des Naziregimes und ihre Nachfahren.
Überleben Die 87-jährige Ruth Dräger ist Jüdin. Sie lebte die ersten Jahre nach ihrer Geburt in einem jüdischen Waisen- und Kinderheim in Hamburg. Ihre Mutter konnte sich nicht um sie kümmern. Der Vater nahm sich 1939 das Leben. Immer sonntags besuchte sie die Familie ihres Onkels. Als sie 15 Jahre alt war, wurde sie 1943 mit dem Großteil ihrer Familie in das Konzentrationslager Theresienstadt verschleppt, die meisten überlebten nicht. Nach der Befreiung kam sie in ihre Heimatstadt Hamburg zurück.
Ihr Tischnachbar, der 89-jährige Peter Burmester, stammt aus einem kommunistischen Elternhaus. Seine Eltern wurden 1934 von den Nazis wegen »illegaler politischer Agitation« verhaftet. Der Vater, der kommunistische Widerstandskämpfer Carl Burmester, wurde ermordet. Die Mutter konnte mit ihren Kindern nach Schweden fliehen. Dort in der Emigration lernte sie Herbert Wehner kennen und heiratete ihn. Sie kehrten 1945 nach Deutschland zurück, wo Herbert Wehner später Minister und SPD-Fraktionsvorsitzender im Bundestag wurde.
Linkshänder An einem anderen Tisch unterhält sich Peter Ahrens. Seine Eltern wurden politisch verfolgt. Er selbst sei als Fünfjähriger in ein Heim verschleppt worden, weil er Linkshänder war. »Man gab mir einen Becher Milch zu trinken, danach erinnere ich mich an nichts mehr«, sagt der 76-Jährige und kämpft mit den Tränen.
Nach vier Wochen war er wieder bei seiner Familie, aber die Verfolgung ging weiter. Sein Vater wurde umgebracht – wie, ist ungeklärt. Zeitlebens engagierte sich die Familie politisch, die Mutter betreute bis ins hohe Alter NS-Opfer.
Neben Peter Ahrens sitzt einer der Gründer des »Begegnungscafés«, Christian Wienberg, der ehrenamtlich für das Hamburger Seniorenbüro arbeitet. »Die Idee für das Café entstand 2009 durch einen Besuch im Kölner Erzählcafé des Bundesverbands Information und Beratung für NS-Verfolgte«, erzählt er. Das war der Anstoß für ein ähnliches Projekt in Hamburg.
Anfang März feierte das Hamburger Café ein Jubiläum: Zum 70. Mal fand das Treffen statt. Sofern es gesundheitlich möglich ist, kommen bis zu 40 Personen ins »Begegnungscafé«. »Es ist der Platz, an dem wir Überlebende uns alle wohlfühlen«, sagt Ruth Dräger. Auch Peter Burmester ist gerne hier. »Ich treffe gleichgesinnte Menschen mit einem ganz ähnlichen Schicksal.«
Mädchenorchester Esther Bejarano, die zum Mädchenorchester des Konzentrationslager Auschwitz gehörte, eine bekannte Zeitzeugin über Hamburgs Stadtgrenzen hinaus, findet es »ganz großartig, dass es das Begegnungscafé gibt« und richtet ihren Blick auf Manfred Schönbohm, den Leiter des Referats für Soziale Entschädigung der Stadt Hamburg.
Das Referat mit dem nüchtern klingenden Namen ist als Amt für Wiedergutmachung auch zuständig für die Entschädigung von Verfolgten des NS-Regimes: Juden, Roma und Sinti, ehemalige Zwangsarbeiter, KZ-Häftlinge und Oppositionelle.
Dass das Amt im lebendigen Austausch mit Opfergruppen steht, liegt am Engagement von Manfred Schönbohm. Er ist Spiritus Rector dieser besonderen Begegnungsstätte. Neben der rein bürokratischen Bearbeitung der Anträge, des Errechnens und der Auszahlung der Mittel macht mittlerweile die Erinnerungskultur einen Großteil der Arbeit aus. Eng kooperiert die Behörde des 59-jährigen Juristen mit der KZ-Gedenkstätte Neuengamme sowie den Geschichtswerkstätten und engagiert sich an Einladungsprogrammen des Senats für die verfolgten Opfer. »Wir waren mit den Teilnehmern des Begegnungscafés auch zu einem Senatsempfang bei Bürgermeister Scholz eingeladen«, erzählt er. Auch zahlreiche Ausflüge und Theaterbesuche werden durch seine Behörde finanziert.
Betreuung Bei dem geselligen Beisammensein sind auch Männer und Frauen vom Verein »Psychosoziale Arbeit mit Verfolgten« dabei, die sich ehrenamtlich für Verfolgte des NS-Regimes engagieren, sei es, sie zum Arzt zu begleiten oder bei Einkäufen und Spaziergängen. Dafür erhalten sie lediglich eine kleine Aufwandsentschädigung. Gerade zum 70. Jubiläum konnte die Vorsitzende Petra Schondey mitteilen, dass die Stiftung »Erinnerung, Verantwortung und Zukunft« finanzielle Mittel für ein Projekt zur Verfügung gestellt hat. Somit kann das Hilfsprogramm weitergeführt werden. Alle in dem Raum freuen sich, denn viele von ihnen sind auf fremde Hilfe angewiesen.
Besonders dankbar sind viele Teilnehmer und Teilnehmerinnen des Begegnungscafés der »Solidarischen Hilfe«, einem außergewöhnlichen Hamburger Pflegedienst. »Wir sorgen insbesondere für die Altenpflege ehemaliger NS-Verfolgter und für deren Kinder«, sagt Petra Vollmer. »Aber wir kümmern uns auch um Alltagsprobleme«. Die »Solihilfe«, wie sie kurz genannt wird, »hilft uns mit viel Liebe«, sagt Ruth Dräger. Und Esther Bejarano findet die Arbeit »eindrucksvoll«, da sie auch politisch und sozial verfolgten Menschen hilft, im Alltag zurechtzukommen.
Nach zwei Stunden geht das 70. Treffen in den Hamburger Wallanlagen zu Ende. Die alten Menschen winken sich gegenseitig zu, manche umarmen sich. Bis zum nächsten Mal, »dann blühen die Blumen«, sagt einer.