Es ist wie im Winter. Das Thermometer zeigt Temperaturen weit unter null. Überall liegt Schnee. Die Mützen tief in die Stirn gezogen, die Daunenjacken bis obenhin geschlossen, den Schal fest um den Hals gewickelt – man mag es sich nicht vorstellen, wie am selben Ort und zur selben Jahreszeit Menschen halb nackt auf dem Appellplatz ausharren mussten. Stundenlang. Und man möchte es sich auch nicht vorstellen – weil es zu sehr schmerzt.
Trotzdem treffen sich seit 1988 regelmäßig am Jom Haschoa Tausende – über all die Jahre sind es rund 150.000 gewesen – jüdische und mittlerweile auch nichtjüdische Jugendliche und junge Erwachsene, um zu erinnern – beim »March of the Living«. Er führt vom Konzentrationslager Auschwitz über etwa drei Kilometer zum Vernichtungslager Birkenau.
Der international organisierte »Marsch der Lebenden«, an seiner Spitze Überlebende des Holocaust, ist ein Gedenkmarsch: Er soll an die Todesmärsche der KZ-Häftlinge erinnern, an das Leiden der Menschen, an die Toten. Und er ist Manifest zugleich: »Er zeigt den Leuten, dass wir weiterleben. Dass es weiterhin jüdisches Leben gibt!«, sagt Michael Groys, der 2010 mit der Jüdischen Oberschule Berlin an der Veranstaltung teilgenommen hatte.
Frage nach Gott Deswegen hat es den 22-Jährigen auch besonders bewegt, dass »einige Vertreter von Chabad in Auschwitz zwischen den Baracken Tefillin gelegt hatten. »Das ist ein sehr starkes Zeichen!« Zugleich sei dies aber auch »seltsam« gewesen. Schließlich sei »Auschwitz einer der Orte, wo man sich am stärksten fragen kann, ob es Gott wirklich gibt«.
Vor allem aber ist Auschwitz ein »Schock«, wie Samuel Ahren freimütig bekennt. Der 37-Jährige hat im vergangenen Jahr mit der britischen Delegation am Gedenkmarsch und der Reise durch Polen teilgenommen. Im Vorfeld fanden zwei Seminare statt, die er jedoch aus Zeitgründen nicht besuchen konnte. »Wenn ich geahnt hätte, was mich erwartet, welche Wirkung dieser Ort hat, hätte ich alles daran gesetzt, doch dabei zu sein«, sagt der Kölner.
Bilder von Auschwitz im Fernsehen oder in Büchern zu sehen, sei eben doch etwas völlig anderes, als das KZ dann zu besuchen: »Als ich vor dem riesigen Berg Schuhe stand, habe ich einen Weinkrampf bekommen und konnte etwa 30 Minuten lang keinen Schritt mehr gehen«, erinnert sich Ahren.
»Man muss dort sehr sensibel sein, sensibel mit der Geschichte umgehen. Die meisten kennen doch die Geschichte und sehen dann, was die Großeltern da durchgemacht haben. Danach muss man sich hinsetzen und darüber diskutieren und den Jugendlichen ein Ventil geben, damit sie ihre Gefühle äußern können«, beschreibt Beni Bloch den Verarbeitungsprozess. Der 71-Jährige nimmt in diesem Jahr als Direktor der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland (ZWST), die Mitorganisator ist, mit weiteren 20 Reisenden am Erinnerungsmarsch teil.
Die gesamte Reise führt nach Krakau, Auschwitz, Lublin, Majdanek, Warschau und Treblinka. Der Anlass für Bloch, in diesem Jahr am Marsch der Lebenden teilzunehmen ist der 70. Jahrestag der Vernichtung der Juden in Ungarn. Zum Ritual werde und wolle er seine Teilnahme am Marsch nicht machen. »Das ist ja nicht so, als machte man einen Ausflug. Das ist keine normale Fahrt!«
familie So sehen dies auch Groys und Ahren. Groys sagt, es sei so schwer gewesen, dass er, »obwohl er in der Schule sehr gut auf die Reise vorbereitet worden war, es derzeit nicht verkraften könnte, erneut teilzunehmen«. Und Ahren hat auch nach einem Jahr noch das Gefühl, er sei »erst gestern in Auschwitz gewesen«. Trotzdem will der Kölner im nächsten Jahr wieder mitfahren. Denn mittlerweile hat ihm eine angeheiratete Tante erzählt, dass viele ihrer Familienmitglieder in Auschwitz umgekommen sind. Ihrer möchte er im nächsten Jahr gedenken. »Vielleicht wird das auch der Anfang meiner Forschungen über meine Familie«, überlegt Ahren, der während der Reise rund 3600 Fotos aufgenommen hat.
»Man nimmt eigentlich erst nach Wochen richtig wahr, was man gesehen und erlebt hat«, meint Groys. Diesem Umstand sei teilweise wohl auch der »harte Kontrast beim Marsch der Lebenden zwischen dem aktiven Leben der Jugendlichen und dem allgegenwärtigen Tod«, geschuldet, der den 22-Jährigen psychisch sehr mitgenommen hat. Er habe zum Teil irritierende Situationen erlebt: So seien etwa Jugendliche auf den Gleisen von Auschwitz herumspaziert und hätten dabei ihre belegten Brötchen gegessen.
Andererseits habe nach der Abfahrt im Bus etwa eineinhalb Stunden lang komplette Stille geherrscht. »Diese Ruhe war sehr prägend und emotional«, erinnert sich der Berliner.
Ernsthaftigkeit Insgesamt sei der »March of the Living« zwar erschlagend, erinnere er ihn doch zu sehr an eine Art »Happening«. »Mir ist schon klar, dass jeder seine eigene Art hat, das Erlebte und Gesehene zu verarbeiten. Mir ist auch klar, dass all die Leute irgendwo essen und schlafen müssen. Und auch, dass manche Teilnehmer Lust haben, sich zu daten«, aber eine gewisse Ernsthaftigkeit sei eben doch vonnöten, schließlich sei der Marsch kein Party-Event.
»Vielleicht sollte man den vorherigen Besuch von Seminaren zur Pflicht für eine Teilnahme machen«, regt Groys an. Ebenso wie Ahren plädiert er dafür, dass »jeder, der es sich zumuten kann«, solch eine Reise machen sollte. »Ich bin überzeugt, dass es wichtig ist, den Toten in dieser Form zu gedenken«, sagt Ahren, und Groys ergänzt mahnend, dass es »wichtig ist, dorthin zu fahren, um zu sehen, was Menschen anderen Menschen antun können«.