Vielleicht dauert es fünf oder sechs Sekunden, bis die Wolken über die Dachfenster hinweggezogen sind, um gleich danach wieder den sonnig-blauen Himmel freizugeben, der sich am vergangenen Sonntagmittag über dem Dach der Weill-Synagoge ausgebreitet hat. Rabbiner Zsolt Balla steht mit seiner schwarzen Gitarre ein wenig seitlich des Toraschranks und singt das »Adon Olam«, während Alfred Jacobys Blick hoch zu diesen sechs Fenstern geht und dort verweilt.
Der Architekt des Bethauses hatte die Gäste zuvor mit auf eine Reise durch das Haus genommen, das nun an der Askanischen Straße eröffnet ist. Besonders, sagte Jacoby, sei das Dach: »Es ist ein großer Davidstern, die geschlossenen Teile sind auf dem Dreieck aufgebaut und erinnern an das Kupfer, das Nechoschet, in König Salomons Tempel. Und ein Dach beschützt uns immer.«
Der Stern Davids gibt den Blick frei zum Himmel
Der Stern Davids gebe den Blick frei zum Himmel, und man habe das Gefühl, dass etwas passiere über die Zeit, erläutert der Architektur-Professor. »Die Wahrheit entspringt der Erde, und die Gerechtigkeit blickt vom Himmel – und darauf müssen wir alle zusammen vertrauen, egal, in welchen sakralen Raum wir gehen.«
Im Rund der Synagoge sitzt am vergangenen Sonntag außer dem Bundeskanzler, dem Ministerpräsidenten des Landes Sachsen-Anhalt, dem israelischen Botschafter, dem Vizepräsidenten des Zentralrats der Juden, dem Oberbürgermeister der Stadt Dessau auch Alexander Wassermann. Er ist der Vorsitzende der 1994 gegründeten Gemeinde mit ihren rund 260 Mitgliedern. Neben ihm lehnt ein gerahmtes Bild, das ihm der Oberbürgermeister überreicht hat. Es zeigt die alte Synagoge Ende der 1920er-Jahre, gezeichnet von einem Schüler mit Pastellkreide. Die Synagoge, betonte Oberbürgermeister Robert Reck, sei damals im Zeichenunterricht Pflichtobjekt gewesen.
Wenig später sollte ein weiteres Geschenk hinzukommen: der Schlüssel. Er hat die Form einer Menora und liegt in einer rot ausgeschlagenen Holzschachtel. Die sieben Arme stehen für die sieben Tage, aber auch für die vielen Hände, die zum Entstehen der Synagoge beigetragen haben. Überreicht wird der matt-silberne schlanke Schlüssel von Alfred Jacoby. Alexander Wassermann trägt ihn sichtlich glücklich an seinen Platz.
Genauso glücklich wird er später den Jad an seinen Platz tragen, den ihm Brigitte Sonnenthal-Walbersdorf überreicht, deren Familie über viele Generationen hinweg eng mit Dessaus jüdischer Geschichte verbunden ist.
Für Alexander Wassermann ist dieser Tag ein ganz besonderer. Er wünscht sich, dass die Synagoge nicht nur ein Haus für die Dessauer Juden sein soll, sondern auch eine Begegnungsstätte für den kulturellen Austausch aller Interessierten.
»Denn mein Haus soll ein Bethaus für alle Völker genannt werden.«
Dazu, betont Wassermann, lade auch der Spruch am Eingang der Synagoge ein: »Denn mein Haus soll ein Bethaus für alle Völker genannt werden.« Dort, am Eingang, hatte sich Wassermann am Vormittag mit Ministerpräsident Reiner Haseloff, Oberbürgermeister Reck und Bundeskanzler Olaf Scholz fotografieren lassen.
Olaf Scholz wollte ein Zeichen der Solidarität setzen
Dass Scholz zur Eröffnung anreisen würde, war nicht von Anfang an geplant. Der SPD-Politiker wollte nach den Angriffen der Terrororganisation Hamas auf Israel ein Zeichen der Solidarität setzen. »Diese Synagoge mitten hier in Dessau sagt: Jüdisches Leben ist und bleibt ein Teil Deutschlands. Es gehört hierher«, hob Scholz hervor und versicherte: »Wir werden alles tun, um jüdisches Leben zu schützen und zu stärken.«
Zentralratsvizepräsident Mark Dainow betonte, dass jüdisches Leben das ganze Jahr über in einer Synagoge stattfindet: »In der Weill-Synagoge werden junge Menschen ihre Barmizwa feiern und damit symbolisch in die jüdische Gemeinschaft eintreten. Hier werden wir das neue Jahr begrüßen und ausgelassen das jüdische Neujahrsfest, Rosch Haschana, feiern. An Purim wird die Synagoge voller ausgelassener verkleideter Kinder sein und der Rabbi die Geschichte Esther verlesen. Doch nicht nur die großen Lebensereignisse und besonderen Feierlichkeiten werden hier stattfinden.« Und an die Gemeinde gewandt, sagte er: »An einem ganz normalen Schabbat werden Sie sich nach dem Gottesdienst am Freitagabend zum gemeinsamen Abendessen versammeln.«
Ab jetzt geht es dann also in die Weill-Synagoge, die das 1908 erbaute und heute denkmalgeschützte Rabbinerhaus ergänzt und nach Kurt Weill benannt ist. Der Komponist verbrachte in Dessau seine Kindheitsjahre. Weills Vater Albert war Kantor der Gemeinde und schickte, wie Brigitte Sonnenthal-Walbersdorf in einer Anekdote erzählte, ihrer Großtante Alice Pick eine Depesche zu ihrer Hochzeit nach Berlin. Das war am 11. November 1911. »Damit gratuliere ich Ihnen jetzt, dass wir den großen Bogen geschlagen haben«, betonte die pensionierte Pädagogin und überreichte den silbernen Jad, den ihre Familie für die Synagoge angefertigt hat.
Ab und zu müsse man zweimal darüber putzen, gibt Sonnenthal-Walbersdorf als praktischen Tipp mit auf den Weg, und dann ist sie sichtlich froh, dass das Geschenk an die Jüdische Gemeinde Dessau in den Händen von Alexander Wassermann gut aufgehoben ist, denn, wie sie sagte, sie habe die mit einem weißen Tuch umwickelte lange Schachtel in den vergangenen Wochen immer bei sich getragen und hatte etwas Sorge, sie könne verloren gehen.
Zum Schluss singt Rabbiner Zsolt Balla das Adon Olam, und als die letzten Töne verklungen sind, nachdem Alexander Wassermann auf dem Weg ist, sich mit Bundeskanzler Olaf Scholz und einigen Gemeindemitgliedern auszutauschen, bleibt der Architekt Alfred Jacoby noch eine Weile sitzen und blickt in die Runde. Vielleicht denkt er an seine eigenen Worte: »Mit diesem Haus kehren die Juden in Dessau in ein neues und gleichzeitig altes Land zurück. Von heute aus betrachtet, kommen sie nach Neu-Alt-Land. Neu ist dabei die Architektur, alt ist seine jüdische Kultur.«