Bisher ist die Israelitische Kultusgemeinde München und Oberbayern (IKG) in der Corona-Epidemie mit einem »blauen Auge« davongekommen. Glückliche Umstände alleine machten dies nicht möglich. Schon lange vor dem Virus, das die ganze Welt in Atem hält, gründete die Gemeinde einen Krisenstab, der sich auf Ausnahmefälle vorbereitet. Das zahlt sich aus. IKG-Vizepräsident Yehoshua Chmiel leitet den Krisenstab.
Herr Chmiel, das Coronavirus hat unser Leben auf den Kopf gestellt. Beschränkungen, Verbote und jetzt zum zweiten Mal ein Lockdown: Wie stark ist die Israelitische Kultusgemeinde betroffen?
Was genau noch auf uns zukommt, ist schwer abzuschätzen und für Prognosen nicht besonders gut geeignet. Aber natürlich macht der Beginn der Impfaktion Hoffnung auf ein Ende der Pandemie und die Rückkehr zu einem normalen Leben. Was ich beim Blick auf das zurückliegende Jahr aber mit einer gewissen Zufriedenheit feststellen kann, ist die Tatsache, dass wir bisher vergleichsweise glimpflich davongekommen sind. Ganz besonders freut mich, dass wir im Saul-Eisenberg-Seniorenheim keinen einzigen Corona-Fall hatten.
Hatte die IKG einfach nur Glück?
Hausgemachtes Glück könnte man vielleicht dazu sagen. Wir haben schon lange vor der Corona-Problematik einen Krisenstab aufgebaut und etabliert. Das hat uns dann auch beim Ausbruch der Pandemie in die Lage versetzt, umgehend effiziente Maßnahmen ergreifen zu können, die sonst einer langen Vorbereitung bedurft hätten.
Haben Sie das Coronavirus vielleicht kommen sehen?
Natürlich nicht. Wir wollten nur nichts dem Zufall überlassen. Die zunehmenden antisemitischen Anfeindungen, Ausschreitungen und Übergriffe beobachten wir schon seit Jahren mit großer Sorge. Und nach dem Terroranschlag auf die Synagoge in Halle hielten wir die Einrichtung eines Krisenstabs für unumgänglich. Darin waren sich Vorstand und Präsidium völlig einig. In der Corona-Krise kam uns das dann sehr zugute.
Inwiefern?
Wir hatten von Anfang an nicht nur mögliche Anschläge auf jüdische Personen und Einrichtungen im Blick. Zum Szenario einer Krisenlage gehörten auch Katastrophen wie Überschwemmungen und Erdbeben – aber eben auch Epidemien und Pandemien. Dazu wurden von uns, bezogen auf die jüdische Gemeinde, Notfallpläne entwickelt. Die lagen beim Ausbruch der völlig unerwarteten Corona-Pandemie griffbereit in der Schublade und halfen uns sehr weiter. Den staatlichen Behörden waren wir bei der organisatorischen Umsetzung der Krisenpläne um entscheidende Tage voraus. Das wirkt bis heute nach.
Sie leiten den Krisenstab. Wer gehört ihm noch an?
Unser Krisenmanagement wird von einem kleinen Führungskreis betrieben. Das garantiert kurze Entscheidungswege, die wie im Fall der Corona-Krise von großem Vorteil sind. Neben IKG-Präsidentin Charlotte Knobloch und mir gehören dem Krisenstab noch Geschäftsführer Steven Guttmann, Sicherheitschef Gilad Ben Yehuda und der externe Berater Guy Fränkel an.
Die Feuerwehr übt, um im Bedarfsfall gerüstet zu sein. Wie muss man sich das beim Krisenstab vorstellen?
Da gibt es durchaus Parallelen. Mitglieder des Krisenstabs haben an verschiedenen Schulungen teilgenommen, sowohl in Deutschland als auch im Ausland. Dazu kam die Einrichtung einer Notfallzentrale mit dem erforderlichen Equipment. Vor allem aber haben wir sehr intensiv diverse Krisenszenarien und deren Bewältigung durchgespielt. Deshalb waren wir auf Corona optimal vorbereitet, was sich bereits beim ersten Lockdown bewährt hat.
Worin bestand dieser Vorteil konkret?
Zum Beispiel konnte innerhalb kürzester Zeit die Anzahl der Personen, die sich an einem normalen Tag regulär im Gemeindezentrum aufhalten, auf 20 Mitarbeiter in der Verwaltung, der Sicherheit und dem Restaurant reduziert werden, ohne dass es zum Kollaps kam. Immerhin sind es sonst 800 Personen, die zeitgleich dort sind.
Und wie konnte der Zusammenbruch aufgehalten werden?
Der Betrieb ging weitgehend im Homeoffice-Modus weiter, und das funktionierte erstaunlich gut. Der IKG kam dabei zugute, dass Steven Guttmann, der neue Geschäftsführer, die Umsetzung der digitalen Angebote mitgetragen und vorangetrieben hat. Für die Gemeinde war es in dieser Hinsicht fast schon ein Quantensprung.
Wie gestaltet sich die tägliche Arbeit in der Gemeinde im Online-Modus konkret?
Die Abstimmung mit den Mitarbeitern läuft per Videokonferenzen auf der digitalen Plattform »Zoom«. Mit diesem neuen Medium können die Präsidentin und der Geschäftsführer alle Mitarbeiter oder einzelne Abteilungen gezielt kontaktieren. Diese Form der Kommunikation wurde sehr schnell zur Routine. Auch die Präsidiums- und Vorstandssitzungen wurden auf die digitale Ebene verlegt. Das stellte sicher, dass kein Entscheidungsprozess vertagt oder verhindert wurde. Eine Prämisse ging aber noch darüber hinaus: An alleroberster Stelle stand und steht für die Gemeinde die Sicherheit und Gesundheit aller Mitarbeiter und Besucher des Gemeindezentrums.
Können Sie schon irgendeine Lehre aus der Krise ziehen, die ja noch nicht vorbei ist?
Was völlig klar ist: Eine Krise dieses Ausmaßes lässt sich nur gemeinsam bewältigen und setzt eine gute Struktur und engagierte Mitarbeiter voraus. Das hat in unserer Gemeinde vorbildlich funktioniert, und wir können sehr stolz darauf sein. Entscheidungsprozesse, die früher Monate oder Jahre gedauert hätten, konnten in der Krise binnen weniger Wochen umgesetzt werden.
Wie geht es weiter?
Natürlich hoffen wir alle auf ein möglichst schnelles Ende der Pandemie, auf die Rückkehr zu einem normalen Leben ohne die daraus resultierenden Einschränkungen. Mit dem Impfstoff scheint das ja nur noch eine Frage der Zeit zu sein. Mit den stark antisemitischen und israelfeindlichen Strömungen, die sich im Zusammenschluss von Rechten und Corona-Leugnern gebildet haben und auch die Mitte der Gesellschaft erreicht haben, dürfte es allerdings nicht vorbei sein. Diese gesellschaftlichen Strömungen bereiten uns auch ohne Corona Sorge.
Mit dem Vizepräsidenten der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern und Leiter des Krisenstabs der Gemeinde sprach Helmut Reister.