Zu uns in die Kölner Synagoge kommen an einem Samstag um die 60 bis 80 Leute. Fragen Sie mal einen, wie dieses oder jenes auf Jiddisch heißt. Keiner weiß es. Als ich vor 21 Jahren hierherkam, gab es noch einige Juden aus Deutschland, Polen oder Rumänien, die das konnten. Gibt es nicht mehr. Wir, die die Sprache sprechen, sind nur wenige Übriggebliebene, man kann uns an den Fingern abzählen. Deshalb schätzt man mich. Ich bringe den Leuten Mameloschn bei. Sie freuen sich: »Onkel Mischa ist gekommen! Er spielt und singt für uns.«
Wenn sie wissen wollen, was ich singe, übersetze ich es ins Russische. Leider muss ich sagen, dass Jiddisch bei uns Juden aus der ehemaligen Sowjetunion so gut wie ausgestorben ist. Ich bin schon fast 90, aber ich kann noch jedes Wort, selbst wenn man mich mitten in der Nacht wecken würde.
Die Leute aus Moskau und St. Petersburg können kein Gramm Jiddisch. Es ist nicht ihre Schuld, sondern die von Stalin. Ich weiß noch, wenn ich mit meiner Frau in der Straßenbahn saß und Jiddisch sprach, tuschelten die Leute oder spotteten. Meine Frau stupste mich an, dass ich Russisch reden soll. Aber ich habe es extra so gemacht!
beruf Geboren bin ich 1929 in Bessarabien unweit von Kischinew. Das Gebiet gehörte vor dem Zweiten Weltkrieg zu Rumänien. In meiner Kindheit habe ich Jiddisch, Rumänisch und Moldawisch gesprochen. Russisch habe ich erst mit 14 gelernt, als die Sowjetunion 1940 Bessarabien besetzte. Zu Hause habe ich immer Jiddisch gesprochen, meine Kinder können es auch.
Mein Vater, mein Großvater, mein Urgroßvater waren alle Schuhmachermeister, und Papa brachte auch mir das Handwerk bei. Mama war dagegen. Sie wollte, dass ich Schauspieler werde, weil ich so gut singen und tanzen konnte. Aber Papa antwortete: »Als Schuhmacher wird unser Junge immer Geld in der Tasche haben. Jeder Ingenieur wird sich bei ihm Geld leihen wollen.« Und so war es auch.
Ich war Spezialist für orthopädische Schuhe und lebte nicht schlechter als jeder Akademiker. Als nach der Wende die Juden in Moldawien schikaniert wurden, verließen die meisten das Land. Einige gingen nach Amerika, andere nach Israel. Ich hätte auch nach Israel ausreisen können, die Papiere hatte ich schon parat. Aber Papa hatte mir immer erzählt, dass wir Wurzeln in Deutschland hätten – ein Großvater lebte in einer Stadt in der Gegend von Köln. Ihr Name ist mir entfallen.
synagoge Ich habe die Sache mit meinem Ältesten besprochen. Wir hatten schon unsere Zweifel, schließlich hatte man früher unsereins hier umgebracht. Aber es sind andere Zeiten, die Deutschen haben sich geändert. Sie sind nicht mehr die Bösen, die auf Befehl morden. In 21 Jahren hat mich hier noch keiner beleidigt. Es gibt sogar Synagogen.
Ich bin nicht übermäßig gläubig, aber ich gehe jede Woche in die Synagoge. Außerdem dachten wir, Deutschland ist näher, vielleicht können wir eines Tages nach Moldawien zurückkehren. Das werde ich allerdings nicht mehr erleben. Als meine liebe Frau starb, haben wir sie hier begraben und daneben Platz für mich gelassen.
57 Jahre waren wir beide zusammen. Ich habe sie sehr geliebt. Sie war nie eifersüchtig, obwohl ich als Tänzer auftrat, die jungen Frauen an der Taille packte und herumwirbelte. Ich bin ihr immer treu geblieben. Wir hatten ein gutes Leben, aber es ist zu schnell vergangen. »Das Leben geht weg, mit Zores und mit Schreck«, wie das Sprichwort sagt. Doch ich habe Gott nicht zu zürnen – ich habe zwei Söhne, Enkel und sogar Urenkel. Und wenn er mir noch etwas Zeit gibt, egal wie viel, ich sage: Danke!
staffelstab Einmal im Monat, dienstags, holt man mich für den Klub »Mameloschn« ab. Ehrlich gesagt, fällt es mir in letzter Zeit immer schwerer. Aber egal, ich tummele mich und tue meine Pflicht, damit die Jüngeren etwas erfahren. Ich muss den Staffelstab weitergeben.
Mein Gehilfe ist meine Gitarre. Ich singe Lieder auf Jiddisch und erzähle über die Feste und die jüdische Lebensweise von anno dazumal. Wir haben zu Hause alle Feste gefeiert, und ich weiß noch alles auswendig. Ich weiß vielleicht nicht mehr, was ich heute zum Frühstück gegessen habe, aber was vor 70 oder 80 Jahren war, ist mir voll gegenwärtig. Die Kinder sollen zumindest ein bisschen das Judentum kennenlernen, solange Leute wie ich noch auf der Welt sind.
Es sind vor allem Ältere, die kommen. Aber es gibt dabei auch einige 30- oder 40-Jährige, manchmal Paare. Sogar Deutsche kommen, so sechs oder sieben Leute. Vielleicht haben sie irgendeinen familiären Bezug zum Judentum, ich weiß es nicht. Es gibt in der Synagoge einen schön ausgestatteten Judaica-Raum, und wir verbringen ein paar Stunden auf diese Weise bei Tee und Kuchen.
Ein Jude muss wissen, wer er ist. Warum wissen es alle und wir nicht? Sind wir denn schlechter als die anderen? Nehmen Sie die Türken, nehmen Sie die Roma: Alle singen in ihrer Muttersprache. Nur wir Juden verstecken uns ein Leben lang.
musik Samstags singe ich im Chor der Synagoge. Als der Kantor hörte, dass ich eine Stimme und musikalisches Gehör habe, hat er mich eingeladen. Mein Gehör ist sogar so gut, dass ich nicht proben muss. Der Kantor staunt, aber meine ganze Familie bestand aus Musikern, Halbprofis.
Wir waren eine große, neunköpfige, fröhliche Familie. Jeder konnte ein Instrument spielen und singen. Wenn wir zusammen Musik machten, hörte sich das wie ein Orchester an. Ich bin der Letzte, der noch am Leben ist. Solange mir Gott gibt – ich sage: Danke!
Als ich jung war, habe ich moldawische Volkstänze getanzt und Preise abgeräumt. Von dem vielen Herumhopsen hat sich bei mir eine Niere gelöst und musste herausoperiert werden. Mit dem Tanzen habe ich aufgehört, aber ich spiele zum eigenen Vergnügen Gitarre.
Ich habe auch drei deutschen Jungs jüdische Lieder und Musik aus Moldawien und Rumänien beigebracht. Sie kamen zu mir nach Hause, schalteten ihr Aufnahmegerät ein, und ich sang und spielte auf der Gitarre. Sie lernten schnell und treten heute in der ganzen Welt auf. Oj, ich habe den Namen ihrer Band vergessen! Auf jeden Fall sind sie mir bis heute dankbar.
alltag In letzter Zeit spielt mein Blutdruck verrückt. Der Arzt hat gesagt, meine Therapie sei die Bewegung. Nicht weit von hier gibt es einen Fußweg, den nehme ich immer. Noch bin ich gut zu Fuß.
Zwei Pflegerinnen kümmern sich um mich. Die eine kommt jeden Tag, verabreicht mir Pillen, gibt mir eine Vitaminspritze, zieht mir die Stützstrümpfe an. Eine sehr sympathische junge türkische Frau: Ich mag sie wie meine eigene Enkelin. Mit ihr rede ich Jiddisch: Meine Kinder lachen mich deswegen aus, aber sie antwortet mir doch auf jedes Wort!
Jiddisch ist zu 70 oder 80 Prozent mit dem Deutschen identisch – ich komme damit überall gut klar, auch wenn es vielleicht altmodisch klingt. Dreimal die Woche kommt eine Putzfrau. Sie saugt Staub und kocht das Essen. Die Kinder schauen natürlich auch vorbei und erledigen meine Einkäufe. Aber sie arbeiten, hetzen sich ab. Ich kann ihnen keinen Vorwurf machen. So ist die Zeit: Jeder ist im Stress.
familie Der jüngere Sohn wohnt nicht weit von hier, zehn Minuten zu Fuß. Wenn es mir nicht so gut geht, rufe ich an, und er kommt sofort. Oder ich gehe hin. »Papa, bleib hier über Nacht!« Aber ich kann nicht, ich mag mein eigenes Zuhause und mein eigenes Bett. Mein Vater war auch so, er sagte immer, man soll bei sich zu Hause schlafen.
Da ich alleine lebe, ist mein liebster Freund der Fernseher. Die Kinder schimpfen mit mir, weil ich mich aufrege, wenn ich sehe, was alles auf der Welt passiert. Der Blutdruck geht hoch, ich kann nicht schlafen. Wie auch, wenn ich sehe, dass man Menschen tötet. Ein Glück, dass ich meine Gitarre habe. Ich singe für mich alleine, das beruhigt mich und tröstet. Sonst ist es schwierig, allein zu sein. Ins Heim will ich nicht, ich will möglichst bis zum Ende in meiner Wohnung bleiben. Aber schauen wir, wie Gott es mit mir meint.
Ja, die Zeiten haben sich geändert. Meine Enkelin hat einen Italiener geheiratet, die zweite hat einen deutschen Freund. Sind beide gute Jungs. Früher war so etwas eine Sensation – jeder sollte bei seiner Nation bleiben, so war es Sitte. Wenn meinem Papa zu Ohren kam, dass ich mit einem russischen Mädchen spazieren ging, schalt er mich aus: »Schämst du dich nicht, gibt es etwa nicht genug jüdische Mädchen?«
Würde er aus dem Jenseits zurückkommen und sehen, wie wir uns hier vermischt haben – oj! Heute interessiert das keinen. Das Leben zeigt, ein guter Mensch ist ein guter Mensch – egal wer er ist.