Versuchung

Oma Edith und der Erdbeerkuchen

Fruchtig, süß, und (fast) unwiderstehlich: Erdbeerkuchen zu Pessach Foto: Thinkstock

Im vergangenen Jahr war ich fest davon überzeugt, es zu schaffen – Pessach zu halten! Ich hatte mir im Vorfeld Rezepte aus verschiedenen Kochbüchern angesehen und war nach der erfolgreichen Nachempfindung des Auszugs aus Ägypten fast schon freudig gespannt – wie auf ein Experiment. Vorher hatte ich nämlich auch gelesen, dass viele Ernährungsexperten es für sehr gesund halten, vom Brotkonsum zu fasten. Begeistert davon, dachte ich also, dass ich nicht nur eine gute Jüdin sei, sondern gleichzeitig auch noch meiner Gesundheit einen Dienst erweise.

Ich war wirklich guter Dinge, als ich am dritten Tag meine Oma im Altenheim besuchte. Sie war gerade beim Abendessen, und ich setzte mich zu ihr und ihrer russischsprachigen Sitznachbarin, die lustlos an einer Mazza knabberte. Oma, die ihre Mazza schon ziemlich dick mit Butter bestrichen hatte, wurde von der russischen Omi aufgefordert: »Mehr Butter!« Oma hatte nichts einzuwenden, und während sie noch mehr Butter auf die Mazze strich, wurde ihre russische Sitznachbarin wütend: »Was denken die sich dabei?«

»Stopfung« Sie zeigte auf das Küchenpersonal, als sei das schuld daran, dass es seit Tagen nur pappiges, ungesäuertes Brot gab, und nicht etwa Gott höchstpersönlich. Nein, sie schien mehr an die vermeintlich sadistischen Züge des Küchenpersonals zu glauben als an den Allmächtigen. »Macht Stopfungen!«, erklärte sie uns gestikulierend ihre Wut. Oma pflichtete ihr bei und biss beherzt in die Butter mit etwas Mazze. Nach dieser Szene verließ ich das Altenheim ein wenig traurig gestimmt. Bei meinem eigenen Abendessen kamen mir die Mazzen an diesem Tag außergewöhnlich trocken vor. Die Worte der russischen Omi hallten in meinem Kopf so laut nach, dass ich die Ernährungsexperten völlig vergaß und Verdauungsprobleme fürchtete.

Am nächsten Tag konnte ich nicht anders, als meine Oma anzurufen: »Sag mal, Oma, müssen alle im Heim Pessach halten?«, fragte ich sie. »Ja, natürlich!«, antwortete Oma gequält. Ich sah sie abgemagert vor mir, wie sie schwach in ihrem Zimmer saß, nichts als trockene Mazzen auf ihrem Teller. Ich fragte, ob ich ihr bei meinem nächsten Besuch etwas mitbringen dürfe. »Verboten! Strengstens verboten!«, schrie sie fast in den Hörer. »Es muss doch keiner wissen«, flüsterte ich verschwörerisch, und wir legten schnell auf, bevor uns noch jemand belauschen konnte und womöglich von unseren sündigen Plänen erfuhr.

Am fünften Tag Pessach fuhr ich auf dem Weg zu Oma an einer Bäckerei vorbei. Innerlich zerrissen sah ich mir die wunderbar aussehenden Kuchen an. Sie waren alle aus luftigem Teig gemacht, weich und so anders als die Mazzot. Ich zeigte auf den Erdbeerkuchen, während ich mir bedrückt eingestand, dass unsere Vorfahren nicht mal eben zu Kamps gehen konnten. Sie hatten keine Wahl gehabt. Aber es ist ja nur für meine arme, alte Oma, versuchte ich theatralisch meine Schuldgefühle zu besänftigen.

Sünde
Ich selbst würde von dem Kuchen nichts essen, sagte ich mir, und gleichzeitig lief mir das Wasser im Mund zusammen. Als Vorsichtsmaßnahme ließ ich das Stück Kuchen mehrfach in Papier einwickeln, damit niemand von der Sicherheit die Sünde würde riechen können. Pessach vermag es nämlich, uns Menschen übernatürlichen Geruchssinn zu verleihen, und ich wollte nicht riskieren, dass man meinen Schmuggelversuch verhinderte oder noch schlimmer – wie peinlich – aufdeckte.

Ich steckte den Kuchen ganz nach unten in meine Tasche und spürte, wie mein Gesicht förmlich glühte, als ich durch die Sicherheitsschleuse trat. Schützend legte ich meine Hand auf die Tasche, um das Kuchenstück vor dem Röntgenblick des Schomers zu beschützen. Mit klopfendem Herzen stieg ich in den Aufzug und rannte in Omas Zimmer. Sie empfing mich mit glitzernden Augen, aufgeregt wie ein kleines Kind.

»Hast du es?«, fragte sie. »Ja, es ist in meiner Tasche. Vielleicht etwas zerdrückt. Aber dafür Erdbeer!«, erwiderte ich. Wir verschlossen die Tür, ich kramte das Kuchenstück aus meiner Tasche, entfernte die drei Lagen Papier und bahrte es wie ein Heiligtum auf dem Tisch auf. Wir beide starrten das Gebäck ehrfürchtig an. Man hätte meinen können, uns sei weitaus Schlimmeres passiert als bloß der fünfte Tag Pessach. »Ich glaube, ich kann es doch nicht«, sagte Oma schließlich, vielleicht hatte sie das Gleiche gedacht. »Ach, du darfst das, Oma«, sagte ich. »Du bist doch schon alt.«

Plötzlich riss meine Oma ihre Augen weit auf. »Ach ja?«, fragte sie provokativ. »Bin ich schon so alt?« Ich bereute meine Worte augenblicklich und wusste sofort, dass sie das Stück Kuchen aus purem Trotz nicht essen würde. Und mir war der Appetit auch vergangen.

Ich wickelte also das Kuchenstück wieder ein und ließ es zurück in meine Tasche gleiten. So schnell hatten wir einander von unseren sündigen Gedanken befreit.

Sicherheit Den Kuchen ließ ich als Reserve während der letzten drei Tage Pessach in meiner Tasche liegen. Wie einen Notgroschen. Und dass er vor sich hin schimmelte, machte mir nichts. Es war mir total egal, denn ihn in meiner Nähe wissend, konnte ich brav weiter Mazzot essen. Und nach dem achten Tag kaufte ich stolz zwei Stück Erdbeerkuchen, ließ sie in Klarsichtfolie einwickeln, stolzierte durch die Sicherheitsschleuse und aß den Kuchen gemeinsam mit Oma in der Lobby.

Bleibt zu hoffen, dass Oma und ich es in diesem Jahr auch ohne Trotz und schimmeligen Proviant schaffen – vielleicht probieren wie es ja einmal mit einer Wette.

München

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