Frühlingsblumen auf jedem Tisch, dazu Muffins, Kaffee und Mineralwasser: Der zweite Tag der jüdischen Schulleiterkonferenz begann mit viel Frische und Leichtigkeit. Gastgeberin Noga Hartmann hatte sich alle Mühe gegeben, ihre Kollegen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz in einer Art Kreativatmosphäre näher zusammenrücken zu lassen, um sich gemeinsam optimal auf das zentrale, nicht ganz so leichte Thema der Konferenz einzustimmen: jüdische Erziehung und Identität.
Zum angeregten Austausch bot die gemütliche Judaistik-Bibliothek der Berliner Heinz-Galinski-Grundschule – zwischen Bücherregalen, Smartboard und Flipchart – am Montagmorgen reichlich Gelegenheit. Denn auf dem Programm stand ein Grundsatzreferat von Micha Brumlik. Mit dem Erziehungswissenschaftler hatten sich die Berliner Organisatoren prominente Verstärkung geholt, um aktuelle Konzepte und Visionen jüdischer Erziehung zu diskutieren – für viele hier ein Dauerthema von höchster Brisanz. Nicht nur wegen abnehmender Schülerzahlen, sondern vor allem wegen des allgemeinen Trends in den Gemeinden.
Den brachte Brumlik gleich zu Beginn seines Vortrags auf den Punkt: »Mehr interkonfessionelle Ehen, zunehmende Reformausrichtung und sinkendes Interesse an Israel« würden die jüdische Identität künftig bestimmen. Dieser Prognose lag eine aktuelle Studie des Pew Research Center zu jüdischer Identität in den USA zugrunde.
Fazit Eine Aufweichung der jüdischen Identität, so Brumliks Fazit, sei schon heute Realität in vielen jüdischen Gemeinden, nicht nur in den USA, auch in Deutschland. Ein Trend, der sich auch in den jüdischen Schulen widerspiegele. Dabei spielten heterogener kultureller Hintergrund, religiöse Ausrichtung und Wahl der kulturellen Schwerpunkte eine Rolle.
Die Pew-Studie hat außerdem ergeben, dass sich die meisten der Befragten eher mit Ethnizität und Kultur als mit jüdischer Religion identifizieren. Genau da sieht Brumlik die große Herausforderung für jüdische Schulen. Unter den Pädagogen herrschte gespannte Aufmerksamkeit, als der Erziehungsexperte resümierte: »Ich glaube, dass sowohl Ethnizität als auch Kultur ohne den Rückhalt von Religion zerbröseln«, so Brumlik. »Mit Klezmer, Gefilte Fisch und Woody Allen allein kann man auf Dauer keine jüdische Identität aufrechterhalten.«
Religion Zustimmendes Raunen und lebhaftes Kopfnicken: Bei vielen Teilnehmern rannte der Erziehungsexperte mit seinen klaren Worten offene Türen ein. »Diese Bilanz entspricht haargenau unseren Erfahrungen«, sagt Marcus Schroll, Leiter des religiösen Erziehungswesens an der Sinai-Grundschule München. Und Rimon Zilberg vom Jüdischen Gymnasium Wien ergänzte: »Religion muss das Rückgrat sein, auf dem wir die Zukunft aufbauen.«
Religion als Basis jüdischer Erziehung – darauf konnten sich die Konferenzteilnehmer schnell einigen. Doch über das Wie und die Zukunftsfähigkeit ihrer verschiedenen Facetten entspann sich eine – zum Teil sehr emotionale – Diskussion. Während mit dem Pausenklingeln die Grundschüler der Heinz-Galinski-Grundschule fröhlich durch die Gänge lärmten, wurde in der Judaistik-Bibliothek kontrovers diskutiert. Denn hier gingen die Ansichten auseinander. Moderne Orthodoxie als Basis für alle? Oder die ganze Vielfalt der religiösen Ausrichtungen für Grundschüler und Gymnasiasten? Mindestens ebenso wichtig dabei: Mit welchen Themen außer Religion sollten jüdische Schulen Kinder und Jugendliche vertraut machen und sich zudem künftig positionieren, um attraktiv zu bleiben?
Drei-Punkte-System Hier stellte Micha Brumlik drei polarisierende Anregungen zur Debatte. Zum einen: das Gedenken und Erinnern an die Schoa. Brumlik plädierte dafür, Erinnerungskultur bereits im Grundschulalter zu beginnen. Seine Begründung: »Die Kinder haben Fragen. Und Fragen müssen beantwortet werden. Dazu brauchen die Schulen altersgerechte Konzepte.« Zum anderen: Antisemitismus, der sich hinter Israelkritik versteckt. »Wir müssen die Kinder und Jugendlichen fit machen für die Auseinandersetzung mit dem Nahostkonflikt. Sie müssen informiert und sprechfähig sein, in fairer und unvoreingenommener Weise.« Und zum Dritten: Für die Bewahrung der Kultur sei Hebräisch »absolut unerlässlich«, so Brumliks Einschätzung. Leider sei hier die Sprachvermittlung durch das hebräische Programm Tal AM »nur suboptimal«.
Damit spricht der Experte Marcus Schroll aus dem Herzen. »Tal AM legt den Fokus auf Schreiben und Lesen. Die aktive Sprechkompetenz der Schüler bleibt dabei meist auf der Strecke.« Doch um das Interesse an Israel wachzuhalten – ein Identitätskriterium, das laut Pew-Studie immer weiter in den Hintergrund gerät –, brauche man Spaß am aktiven Hebräisch, betonte der Münchner Lehrer.
Konkurrenz In diesem Zusammenhang plädierte Brumlik dafür, auch die 30.000 Israelis, die mittlerweile in Berlin leben, stärker mit einzubeziehen, sowie mehr auf jüdische Väter zuzugehen. Außerdem appellierte er an ein zeitgemäßes Rollenverständnis. »Die Trennung von Mädchen und Jungen funktioniert heute nicht mehr. Wenn in den großen Einheitsgemeinden egalitäre Gottesdienste stattfinden, aber in der Schule nicht, dann ist da für mich eine Schieflage«, so Brumlik.
Gerade Gebetsfeiern, erzählte Noga Hartmann, hätten Konfliktpotenzial. »Wir sind nicht nur Vorbild, sondern auch Dienstleister. Eltern wollen Teil des Ganzen sein. Sie sind unsere Partner. Der Wohlfühlaspekt ist vielen von ihnen wichtiger als Religion und Kultur, zumal angesichts der Konkurrenz sehr guter staatlicher Schulen. Wo ist hier die Mitte?« Insbesondere an der Heinz-Galinski-Schule erlebe sie immer wieder hartnäckige Diskussionen über den Stellenwert von Sprache und Religion.
Ausrichtung »Muss es denn unbedingt eine Mitte geben?«, fragte Barbara Witting, Leiterin des Berliner Moses-Mendelssohn-Gymnasiums, daraufhin provokativ in die Runde. »Allen Eltern kann man es ohnehin nicht recht machen«, erwiderte Michal Grünberger aus Wien spontan. »Selbstverständlich richten wir uns nach dem jüdischen Jahreskreis und seinen Feiertagen«, so Witting. Dazu gehörten ebenso Synagogenbesuche und Einladungen an Rabbiner und Rabbinerinnen aller Ausrichtungen sowie der Hebräischunterricht. »Das sagen wir den Eltern ganz klar«, setzte Witting leidenschaftlich hinzu.
Eltern Dennoch erntete Noga Hartmann in puncto Elternarbeit viel Zuspruch, auch von Micha Brumlik. »Es kann nicht sein, dass die Eltern die jüdische Bildung an die Schulen abgeben.« Dvorah Braunschweig-Gross aus Zürich setzt seit einigen Jahren auf Elternbildung. »Viele Eltern sind selbst unsicher, wie sie ein Gebetbuch lesen sollen, wo was steht und was es bedeutet. Unsere Kurse sind ein Zusatzangebot.« Wenn es keine Unterstützung der Eltern gebe, so die Pädagogin besorgt, dann werde jüdische Identität auch nicht nachhaltig im Alltag verankert. »Da kann die Schule noch so viel an jüdischer Erziehung bieten.«
Daphna Schächter, Schulleiterin aus Düsseldorf, nimmt viele Anregungen mit nach Hause. Nur in einem Punkt widerspricht sie Brumlik: »Erinnern ist wichtig. Doch ebenso wollen wir ein Wir-Gefühl vermitteln. Das fördern wir bei unseren Gemeinschaftsfesten vor allem durch Fröhlichkeit – und nicht nur durch Gedenken und Trauer.« Wie dieses Wir-Gefühl an der Heinz-Galinski-Grundschule vermittelt wird, davon konnten sich die Schulleiter anschließend bei einem Rundgang überzeugen.