Am Morgen von Jom Kippur stand eine Gruppe Interessierter vor der Synagoge Rottweil. »Wir haben sie weggebeten«, sagt Tatjana Malafy, Geschäftsführerin der Jüdischen Gemeinde der Stadt in Baden-Württemberg. Die Gemeinde zählt 280 Mitglieder, und die hatten an Jom Kippur weder Sicherheitspersonal noch Objektschutz von der Polizei.
Stunden später kamen Polizisten zur Gemeinde und waren überrascht, dass die Mitglieder noch nichts von den Vorkommnissen in Halle wussten. »Aber unsere Handys waren ja wegen Jom Kippur ausgeschaltet«, sagten sie den Beamten. Für die Beter war es ein großer Schock, obwohl sie in diesen Tagen schon besorgt gewesen waren, nachdem vor der Neuen Synagoge in Berlin der Messer-Angriff eines Mannes verhindert werden konnte.
ABENDGEBET In Baden-Württemberg sei die Lage ruhig, hätten sie stets von den Politikern gehört – infolgedessen gab es bislang keinen Polizeischutz für die Gemeinde in Rottweil. Dennoch schützten nach dem Anschlag in Halle jetzt zum Abendgebet Polizisten das Gotteshaus.
»Wir trauern um die zwei Opfer«, sagt Tatjana Malafy. Für sie sei es ein Wunder, dass alle Beter in dem Gotteshaus in Halle überlebt haben. In den Tagen nach der Tat bekam die Gemeinde Anrufe und Mails, in denen viele Menschen ihre Anteilnahme ausdrückten. Ebenso wurden Blumen gebracht. Politiker suchten die Gemeinde auf. Und zu den nächsten Gottesdiensten kamen auch mehr Gemeindemitglieder als üblich. Wichtig sei für sie, dass der tägliche Unterricht weitergehen kann, sagt Malafy, die auch zweite Vorsitzende des Dachverbands IRG Baden ist. »Wir sind ein offenes Haus. Doch nun bin ich vorsichtig geworden. Ich habe kein Sicherheitsgefühl mehr.«
Als Reaktion auf Halle werden Nicht-Gemeindemitglieder derzeit nur mit vorheriger Anmeldung und unter Vorzeigen des Ausweises in die Synagoge gelassen. Dennoch gilt weiterhin: »Wir freuen uns über Gäste.«
Für alle Gemeinden gilt weiterhin: Sie freuen
sich über Gäste
In Rostock haben am 16. Oktober die Jüdischen Kulturtage angefangen, die bis zum 6. November gehen. Juri Rosov, Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde der Hansestadt, weiß nun, dass die Polizei bei jeder Lesung, jedem Konzert, jeder Diskussion vor Ort sein wird. Mecklenburg-Vorpommerns Justizministerin Katy Hoffmeister (CDU) hatte die Gemeinde besucht, und Innenminister Lorenz Caffier (CDU) hatte nach dem Anschlag von Halle veranlasst, die Sicherheitsvorkehrungen für jüdische Einrichtungen zu erhöhen.
INNENMINISTERIUM Rosov war in diesen Tagen zu weiteren Gesprächen ins Innenministerium eingeladen. »Wir sind ein offenes Haus«, betont der Gemeindevorsitzende, aber das bedeute nicht, auf Sicherheit zu verzichten. »Ich sehe da auch keinen Widerspruch.« Alles andere wäre unverantwortlich und dumm. Schon vor dem Terrorangriff in Halle hatte Rosov angemahnt, dass die Gemeinde mehr Polizeischutz bei ihren Festen, Gottesdiensten und sonstigen Veranstaltungen braucht. Er habe dann gehört, dass keine Hinweise vorliegen und somit keine Gefahr drohe, weshalb die Polizei lediglich alle halbe Stunde mit einem Streifenwagen vorbeifuhr.
Zu Sukkot stand dann ein Polizeiwagen vor der Tür. »Wir benötigen mehr Sicherheit, wir müssen mehr dafür tun«, bekräftigt Rosov, sowohl Beter als auch Gäste müssen schließlich wissen, dass sie geschützt werden.
»Wir waren vollkommen entsetzt«, sagt Judith Neuwald-Tasbach. Noch Tage nach dem Anschlag von Halle spürt man die Erregung der Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde Gelsenkirchen. Dass betende Juden Barrikaden aufbauen, während draußen auf die Tür geschossen wird, bewegt die Gemeindevorsitzende. »Es schockiert uns«, sagt sie und fügt hinzu: »Und auch das ganze Land.«
MAHNWACHE Was ihr in diesen Momenten gutgetan habe, war, dass gleich am Donnerstag eine Mahnwache in Gelsenkirchen stattfand, um still zu gedenken. Die Mehrheit der Menschen in Deutschland verstehe den Anschlag nicht und sei »auf unserer Seite«, sagt sie und berichtet, dass der Objektschutz für die Synagoge sofort erhöht wurde. »Das gilt für das ganze Bundesland Nordrhein-Westfalen.« Schon immer habe die Gemeinde einen guten Kontakt zur Polizei gehabt. Wenn die Gemeinde darum bittet, werde ihr sofort geholfen.
Dennoch findet Neuwald-Tasbach es schrecklich, dass die Maßnahmen überhaupt nötig sind. »Es ist doch überhaupt nicht normal, dass betende Menschen geschützt werden müssen.« Täter wie der von Halle seien eine Gefahr für die Gesellschaft. Aber, fügt Neuwald-Tasbach hinzu, sie habe auch den Eindruck, dass die Gesellschaft gerade verstehe, dass man nicht länger wegsehen darf und dass man sich mit den Themen Antisemitismus und Sicherheit intensiver auseinandersetzen muss.