Die Zuhörer sind still und hören Mikhail Tanaev, dem Vorsitzenden der Betergemeinde Kahal Adass Jisroel, aufmerksam zu. »Wir möchten allen eine Möglichkeit geben, uns kennenzulernen, und zeigen, dass wir ein Teil der Gesellschaft sind.« Aus diesem Grund hatte die orthodoxe Gemeinde in der Brunnenstraße am vergangenen Samstag anlässlich der Langen Nacht der Religionen ihre Synagogentüren geöffnet. Während im Innenhof Kinder herumtoben und Erwachsene sich angeregt bei einer Barmizwa-Feier unterhalten, stellen etwa 40 interessierte Besucher dem Vorsitzenden sowie den Beterinnen Anna Segal und Hannah Rubin ihre Fragen.
»Unsere Gemeinde besteht überwiegend aus jungen Familien, die orthodox leben«, erklären die drei. Dabei würden viele aus ursprünglich säkularen Familien kommen – für ihre Eltern sei es nicht immer leicht, sich mit dem orthodoxen Leben der erwachsenen Kinder zu arrangieren. »Ich bin erst mit 15 Jahren religiös geworden«, berichtet etwa Anna Segal. Ihre Eltern beschreibt sie als eher nichtreligiös. Deshalb sei die Gemeinde so jung und habe kaum ältere Beter.
Gebote Ein Zuhörer möchte wissen, wie ernst es die Beter mit dem Schabbat und dem Einhalten der Gebote nehmen. »Wir haben uns bewusst für dieses Leben entschieden, das soll aber nicht heißen, dass es uns immer leichtfällt, uns an die Gesetze und Gebote zu halten«, meint Hannah Rubin.
Anna Segal sagt, sie empfinde den Schabbat als Auszeit. Sie könne die Ruhe genießen und den Freiraum nutzen, um ihre Gedanken zu »entfalten«. Meistens kämen ihr an diesem Tag viele Ideen in den Sinn – und sie hofft, keine zu vergessen, da sie sie ja nicht aufschreiben dürfe. »Aber wir nutzen auch die modernen Medien«, ergänzt Hannah Rubin.
Wenn sie beispielsweise einkaufen gehe und sich nicht sicher sei, ob etwas koscher sei, dann schreibe sie rasch eine Nachricht an den Rabbiner. »Wer bestimmt denn, ob heute beispielsweise Sardinen aus dem Meer, das mit Plastiktüten zugemüllt ist, koscher sind?«, fragte ein Besucher. Auch dafür sei der Rabbiner zuständig, lautet die Antwort.
sicherheit Viele Fragen der Besucher drehen sich um das Gemeindeleben. »Sind Sie Teil der Berliner Einheitsgemeinde? Haben Sie Kontakt zu anderen Synagogen?«, wollen die Besucher zum Beispiel wissen. Tanaev verneint. Kahal Adass Jisroel habe sich der Einheitsgemeinde nicht angeschlossen, aber ja, es bestehe Kontakt zu Betern anderer Synagogen.
Und wenn es um Themen wie Sicherheit oder Antisemitismus geht, dann seien alle miteinander im Austausch, so Anna Segal. Die Gemeinde habe ein sehr aktives Gemeindeleben und feiere jedes Wochenende Schabbat. Überhaupt gebe es viele Veranstaltungen an den Wochenenden. »Wir laden auch Leute ein, die wir nicht kennen«, so Anna Segal. Die Gottesdienste würden so gut besucht, dass so ziemlich jeder Platz belegt sei. Zusätzlich fänden morgens mehrere Gottesdienste statt. Außerdem seien zwei Mikwen, rituelle Bäder, vorhanden.
Eine andere Besucherin, Andree Möhling, berichtet, dass sie in der Nachbarschaft wohnt und deshalb froh ist, einmal die Synagoge und ihre Mitglieder näher kennenzulernen. »Ich sehe Sie oft auf der Straße, Sie sind als Juden erkennbar. Haben Sie schon einmal Probleme damit gehabt?«, will sie wissen. Schließlich liege die Synagoge nahe am Problembezirk Wedding. Ja, es habe Vorfälle gegeben, erwidern Tanaev, Rubin und Segal. Viele Mitglieder würden daher über der Kippa eine Schirmmütze aufsetzen.
Frauenempore Insgesamt zählt die Gemeinde, die vor dreieinhalb Jahren gegründet wurde, 320 Mitglieder. Die meisten von ihnen kommen aus den Ländern der ehemaligen Sowjetunion. Die Kita besuchen mittlerweile mehr als 100 Kinder, kürzlich sei sogar eine neue Gruppe eröffnet worden, berichtet Tanaev. Ebenso wachse die Beth Zion Schule – demnächst werde sie eine gymnasiale Oberstufe einrichten, brauche dafür aber mehr Platz, als in der Rykestraße vorhanden ist. Beide Einrichtungen seien staatlich anerkannt, der Rahmenplan des Berliner Senats sei somit verbindlich, so Tanaev.
Eine weitere Frage während der Langen Nacht der Religionen dreht sich um die Sitzordnung im Gotteshaus und darum, ob Frauen und Männer nebeneinander Platz nehmen. Tanaev schüttelt den Kopf und zeigt auf die Frauenempore. Allerdings sitzen in diesem Moment alle auf der eigentlichen Empore, denn die jetzige Synagoge befindet sich auf der Höhe der ehemaligen Empore, ein Mieter hat eine Zwischendecke einziehen lassen. Der Vorsitzende eilt kurz hinaus und kommt mit einem Foto wieder, auf dem die Privatsynagoge, die 1910 eingeweiht wurde, abgebildet ist.
In der Pogromnacht wurde das Innere zerstört, später wurde es als Büroraum genutzt, weshalb eine Zwischendecke eingezogen wurde. Bevor das Haus seine ursprüngliche Funktion als Synagoge wiedererlangte, war in diesen Räumen ein Lernhaus für Studenten, berichtet Tanaev.
Visitenkarte »Ich hoffe, es hat Ihnen Spaß gemacht«, sagt Tanaev kurz vor Mitternacht. Im nächsten Jahr werde sich die Gemeinschaft wieder den Fragen stellen, so der Gemeindevorsitzende. Vor allem zwei Begegnungen bestärken ihn darin – eine Besucherin, eine Pädagogin, möchte sich mit ihm noch länger über die Kita und die Schule unterhalten. »Ich hatte das Glück, dass ich beide schon besuchen durfte«, sagt sie.
Ein weiterer Lange-Nacht-Besucher, Jochen Schäfer, Dozent an der Alice-Salomon-Fachhochschule, hat zufällig eine ehemalige Schülerin wiedergetroffen, die Beterin der Gemeinde ist. »Ich würde gern einen Austausch zwischen der Schule und Ihrer Gemeinde anregen«, schlägt er dem Vorsitzenden vor und gibt ihm seine Visitenkarte. Tanaev verspricht, ihn anzurufen. »Das ist das Interessante: Es wurde keine einzige Frage zum Holocaust gestellt, sondern nur zur Gegenwart«, bemerkt Mikhail Tanaev. Das sei doch »ein gutes Zeichen«, so der Synagogenvorstand.