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Offene Synagogen

Beispielsweise der Mann, der berichtete, dass er nur zwei Straßen von der Synagoge in Halle entfernt wohnt, aber die Adresse bis vor einigen Jahren nur als sagenumwobenen Ort wahrgenommen habe. Oder die Grundschüler, die so viele Fragen stellen zum Ewigen Licht, warum Jungen und Männer eine Kippa in der Synagoge tragen und wie eine Torarolle aussieht. Sie sind neugierig auf das Judentum, wie viele andere auch. »Für uns entstehen so Chancen, sichtbar zu werden und zu zeigen, dass die Gemeinde existiert«, sagt Eva-Maria Thiele von der Jüdischen Gemeinde Halle.

Seit vielen Jahren führt sie durch das Bethaus und über den alten Friedhof. Gerade hat sie vier Gruppen begleitet, darunter Schulklassen und interessierte Erwachsene, für deren Vorfahren ein Stolperstein verlegt wurde und die nun noch die Synagoge sehen wollten. Etwa 80 Besuchergruppen kommen pro Jahr, die 32-Jährige und der Gemeindevorsitzende Max Privorozki begleiten viele von ihnen. Neben Schulklassen melden sich Polizeivertretungen, Lehrer oder auch Senioren an. Fast alle jüdischen Gemeinden in Deutschland bieten Synagogenbesichtigungen an.

Manches Kind sagt, auch die christliche Oma lese die fünf Bücher Mose.

In Halle gibt es bereits seit 1184 jüdisches Leben. Die einstige Synagoge wurde 1938 von den Nazis zerstört, die heutige war ursprünglich eine Trauerhalle am jüdischen Friedhof und wurde 1894 aus weißen und gelben Ziegeln erbaut. Die Umnutzung erfolgte 1953. In die Schlagzeilen geriet die Synagoge am 9. Oktober 2019, als ein Mann einen Anschlag auf sie verübte und zwei Menschen, die zufällig auf der Straße waren, tötete. Aber heute soll es nicht nur um die Schoa und den Antisemitismus gehen. Sie freue sich immer auf die Führung, sagt Eva-Maria Thiele. Das Bundesland Sachsen-Anhalt sei kaum religiös geprägt, doch viele interessierten sich für die Synagoge.

An diesem Morgen begrüßt Thiele eine Schulklasse am Eingang. »Ihr seid wirklich eine vierte Klasse?«, fragt sie gut gelaunt. Die Kinder tauen auf, das Eis ist gebrochen. »Wir besuchen nun gemeinsam einen Ort, an dem wir zusammen lernen«, sagt sie. Jede Frage sei erlaubt. »Wart ihr schon mal in einer Synagoge?« Kopfschütteln bei den Kindern. Sie betreten den Innenraum. »Ich dachte, es wäre viel dunkler«, meint einer. Von außen sehe die Synagoge doch aus wie eine Kirche. Und: Das Gebäude sei größer, als er es sich vorgestellt habe.

Vor allem das Ewige Licht beschäftigt die Kinder

Vor allem das Ewige Licht beschäftigt die Kinder, die sich fragen, was passiert, wenn es ausgeht. »Gott ist dann trotzdem da«, sagt Eva-Maria Thiele. Eventuell müsse der Strom wieder angestellt oder eine Glühbirne erneuert werden. Dann können die Kinder das Modell einer Torarolle in die Hand nehmen. Ebenso Gebetsriemen und einen Gebetsschal. »Der Gottesdienst findet auf Hebräisch statt, aber das Gebetsbuch gibt es auch in einer Übersetzung«, sagt Thiele.

Manchmal höre sie, dass ein Kind sagt, seine christliche Oma lese auch die fünf Bücher Mose. Und so sehen sie die Parallelen der Religionen. »Wir planen bei den Schülern meistens eine Stunde ein, damit es ihnen nicht zu viel wird«, so Thiele. Aber sie habe auch schon erlebt, dass sie überhaupt nicht müde wurden, sondern weiter fragten, warum es eine Empore für die Frauen gibt, ob hier Barmizwa gefeiert wird und ob die Gemeindemitglieder koscher essen.

»Mein Wunsch ist am Schluss, dass wir uns auf Hebräisch verabschieden, was wir auch machen.« Sie habe noch nie erlebt, dass sich ein Schüler schlecht benommen hätte. Kinder, die einer anderen Religion angehören, entdecken die Gemeinsamkeiten, beispielsweise bei den Speisegesetzen. »Wir möchten die Synagoge öffnen und zeigen, dass es jüdisches Leben in Halle gibt und gab.«

Irgendwann war es Rachel Dohme aus Hameln einfach zu anstrengend, die schweren Kisten, die immer gut gefüllt mit Anschauungsmaterial waren, in die Schulen zu transportieren, um über das Judentum und die liberale Gemeinde Hameln zu berichten. Das war in den 90er-Jahren, eine Zeit, in der Lehrer die Sonderschulpädagogin schon einluden. 1997 wurde die Liberale Jüdische Gemeinde Hameln gegründet.

Gottesdienste in gemieteten Räumen

Zu Beginn verfügte sie noch nicht über eine Synagoge, sondern hielt ihre Gottesdienste in gemieteten Räumen ab. Da besuchte Rachel Dohme etwa 30-mal im Jahr die Schulen. 2011 stand schließlich die Synagoge genau auf dem Platz, wo bis 1938 auch die alte stand. Seitdem kommen Schüler, Konfirmanden, Lehrer und Politiker, um mehr über das jüdische Leben zu erfahren. Etwa 40 bis 50 Führungen werden pro Jahr gebucht. Mindestens 500 Führungen hat Rachel Dohme inzwischen geleitet. Mittlerweile haben noch zwei weitere Ehrenamtliche diese Aufgabe übernommen.

»Mir ist es ein persönliches Bedürfnis zu erklären, dass es viele Strömungen im Judentum gibt, nicht nur die orthodoxe Richtung, die meistens dargestellt wird«, sagt die gebürtige Amerikanerin. Die Schüler fragen sie, ob sie am Schabbat tatsächlich das Licht nicht anmachen dürfen oder aufs Autofahren verzichten müssen, was sie als liberale Jüdin verneint. Aus diesen Erfahrungen ist ein Buch von jüdischen Kindern für nichtjüdische Schüler aus der Jugendgruppe der Gemeinde entstanden, das darüber aufklärt und in allen Grundschulen in Hameln ausliegt.

»Besonders jetzt in der angespannten aktuellen Lage ist es wichtig, alle Kinder zu erreichen«, sagt sie. Bei einigen spüre sie eine gewisse Skepsis, wenn sie hereinkommen. Dann denkt sie sich, dass diese nach 90 Minuten abgebaut sein wird. »Ich möchte von euch lernen, ihr von mir«, sagt sie den Schülern.

Bima, Toraschrank und Tora

Nach der Einführung fordert sie die Kinder auf, in der Synagoge herumzugehen und an der Stelle stehen zu bleiben, wo es etwas gibt, worüber sie mehr erfahren möchten. »Das macht allen Spaß.« Sie lädt die Teilnehmer auf die Bima ein, zeigt ihnen den Toraschrank und die Tora. »Kommunikation ist die einzige Möglichkeit, Frieden untereinander zu schaffen.« Am Schluss betont sie, dass sie nun alle anders geworden sind, weil »wir miteinander gesprochen haben«. Damit das Lernen versüßt wird, bringt sie, auch wenn sie Führungen für Erwachsene anbietet, Lutscher mit, die koscher und halal sind.

»Bei den Führungen schlägt mein Lehrerherz schneller, sie sind meine Lieblingstätigkeit«, sagt Dohme. Gern erinnert sie sich an den Tag der offenen Tür, als sich mehr als 1000 Interessierte einfanden. »Da hatten wir mehrere Stationen angeboten, ich stand an der Bima und kam von dort nicht mehr weg, weil so viele Menschen da waren.« Es wäre schön, so einen offenen Tag wieder anzubieten.

Schwellenängste könnten dank der Führungen überwunden werden. Das meint auch Michael Rosenkranz, der seit Jahrzehnten Interessierten die Bochumer Synagoge zeigt und über das jüdische Leben berichtet. »Viele Christen trauen sich nicht zu kommen, aber wenn sie da sind, spüre ich, dass Steine vom Herzen fallen«, sagt der 76-jährige Arzt, der zweimal die Woche dabei ist.

Verständigung zwischen Juden und Christen

So käme eine Verständigung zwischen Juden und Christen zustande. Die meisten Besucher hätten noch nie eine Gelegenheit gehabt, Juden direkt zu begegnen. Er würde gern anregen, dass auch Moscheen besucht und so Begegnungsmöglichkeiten geschaffen werden. »Unkenntnis führt zu Angst – und Angst ist eine schlechte Ratgeberin. Wir müssen mehr Begegnung mit Andersdenkenden und Andersglaubenden wagen und uns näher kennenlernen.«

Am Anfang der Besichtigung berichtet Rosenkranz von der Synagoge der Gemeinde Bochum, Hattingen und Herne, die 2007 eröfnet wurde. »Der große lichte Raum beeindruckt die Leute sehr«, meint er. Aber das jüdische Leben gibt es viel länger in Bochum, bereits 1616 wurden in einer Stadtrechnung zwei jüdische Familien namentlich erwähnt.

Die Gottesdienste wurden zunächst in privaten Räumen gefeiert; schließlich richtete man einen kleinen Betsaal ein, dem 1863 ein schlichter Synagogenbau und 1896 ein Synagogenumbau mit Erweiterung folgten. 1938 wurde die Synagoge zerstört, und von 1941 an wurden Jüdinnen und Juden in die Vernichtungslager deportiert. Die Gemeinde in Bochum – bestehend seit 1994 – würde er als weltoffen, irgendwo zwischen orthodox und liberal beschreiben.

Viele ehrenamtliche Mitglieder leiten die Besucher an.

Warum Männer eine Kopfbedeckung tragen, wie die Beziehung zwischen Frauen und Männern aussieht und ob man am Schabbat wirklich nichts tun darf, das sind die meistgestellten Fragen während der Führungen. »Das beschäftigt die Leute.« Fünf ehrenamtliche Gemeindemitglieder leiten die Besichtigungen, die mehrmals in der Woche stattfinden. Rosenkranz ist einer von ihnen.

Sein Vater war Schoa-Überlebender und blieb nach dem Holocaust in Stuttgart, wo Michael Rosenkranz geboren wurde. Er studierte später in Freiburg und zog schließlich erst nach Bochum, dann nach Gelsenkirchen. Auch dort begleitete er bereits Schulklassen durch die Synagoge. Doch dann zog es ihn wieder nach Bochum – und er übernahm erneut Führungen. Überrascht sei er immer, wie groß das Interesse ist und wie häufig die Führungen nachgefragt werden.

»Ich mag es sehr. Am liebsten sind mir die Viertklässler«, sagt er. Denn die seien spontan und erzählten von sich. Zwischen 14 und 17 Jahren seien die Schüler zurückhaltender und trauen sich kaum, Fragen zu stellen. »Ab 18 sind sie wieder normal«, berichtet er mit einem Lächeln. Erwachsene kämen natürlich auch. »Einige, um sich auf eine Reise nach Israel vorzubereiten, und dann gibt es noch die Seniorengruppen, die einmal im Monat etwas besichtigen und in deren Programm auch der Synagogenbesuch verankert ist.« Am Ende wird anerkennend geklatscht.

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