Mit kleinen Schritten nähert sich Inge Deutschkron dem Mahnmal der Gedenkstätte »Gleis 17« in Berlin-Grunewald. Ihr Blick ist wach. Aufmerksam betrachtet sie die weitläufige Anlage des früheren Güterbahnhofs. »Hier ist es passiert«, sagt sie leise, mehr zu sich als zu ihren Begleitern, bei denen sie sich untergehakt hat. Am Mahnmal angekommen, legt die 90-jährige Journalistin, die den Holocaust im Berliner Untergrund überlebte, eine Rose nieder. In sich gekehrt bleibt sie für einige Minuten an den Gleisen der Gedenkstätte stehen und erinnert an die Opfer.
Deutschkron ist am vergangenen Donnerstag auf Einladung des Berliner Senats und der Jüdischen Gemeinde zu Berlin nach Grunewald gekommen, um die Hauptgedenkrede über die ersten Deportationen von Berliner Juden am 18. Oktober 1941 zu halten. Hier, auf dem Gelände des heutigen S-Bahnhofs wurden auf den Tag genau vor 71 Jahren 1251 Menschen in das Ghetto Litzmannstadt verschleppt.
Verantwortung Es folgten weitere Deportationen in die Konzentrationslager nach Theresienstadt, Riga, Lodz und später direkt nach Auschwitz. Von insgesamt 160.000 Mitgliedern der Jüdischen Gemeinde zu Berlin wurden 55.000 von den Nationalsozialisten ermordet. Kulturstaatssekretär André Schmitz erinnert in seiner Eröffnungsrede daran, dass »dieses dunkle Kapitel auf ewig mit der Geschichte Berlins verbunden bleiben wird. Dieser Ort kündet von Schuld, von Verantwortung, von Mitläufertum, von ängstlichem Wegsehen.«
Dass es – wenn auch nur wenige – Berliner gab, die Juden retteten, würdigt der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde zu Berlin, Gideon Joffe. »Mit dieser Gedenkveranstaltung wollen wir auch an diese Helfer erinnern«, sagt Joffe. Im Hinblick auf die antisemitischen Übergriffe in den vergangenen Monaten fordert er: »Die Gesellschaft muss sich ein Vorbild an diesen Helfern nehmen und wieder Werte wie Anteilnahme und Mut leben, um Menschen in Not zu helfen.«
»Ginge es nach den Nazis«, sagt Inge Deutschkron wenig später, »dürfte ich heute gar nicht hier sein.« Sie frage sich bis heute, »mit welchem Recht« sie sich »damals versteckt habe, während andere deportiert und umgebracht wurden«.
Zeitzeugen Dieses Gefühl der vermeintlichen Schuld habe sie zuweilen so sprachlos gemacht, dass sie nicht mehr von ihrem Schicksal berichtete. »Doch immer, wenn mir jemand sagte: ›So vergessen Sie doch! Das Ganze ist doch schon so lange her!‹, wusste ich, dass ich weiter machen musste, nicht, um mich zu rächen«, erklärt die Journalistin und Schriftstellerin, »sondern um die Wahrheit zu erzählen.« Eine andere Frage bereite ihr indes seit geraumer Zeit große Unruhe: »Wie wird es sein, wenn ich und andere Zeitzeugen nicht mehr selbst von unserer leidvollen Geschichte berichten können? Wer wird dann von unserem Schicksal erzählen? Wird man sich noch an uns erinnern?«
Darauf antworten wenig später die Schüler der Ernst-Abbe-Oberschule Neukölln. Um der Tausenden Opfer zu gedenken und ihre Namen dem Vergessen zu entreißen, recherchierten die Schüler monatelang die Lebensläufe von Juden, die in den 30er-Jahren ihre Schule besucht hatten und vom Bahnhof Berlin-Grunewald deportiert wurden.
»1932 gab es 130 jüdische Schüler, zwei Jahre später nur noch fünf«, hat zum Beispiel Esra Ünlütürk im Rahmen ihrer Recherche herausgefunden. »Wir haben über den Holocaust schon viel im Unterricht gesprochen«, meint ihre Mitschülerin Ibtissam El-Husseini. Und sie fügt hinzu: »Aber wenn man sich noch einmal selbst damit beschäftigt, merkt man erst einmal, wie viele Menschenleben von den Nazis wirklich ausgelöscht wurden. Ihrer wollen wir hier und heute gedenken. Nur wer vergessen wird, ist wirklich tot.«