Genau so stellt man sich ein Foto aus den 30er-Jahren vor, etwas vergilbt, leicht unscharf und mit ausgefranstem Rand. Neun Kindergartenkinder grinsen frech in die Kamera, sie wirken völlig unbeschwert. Ein fröhliches Bild, wäre da nicht der Junge ganz links, der mit dem Rücken zum Betrachter steht. Hat er sich einen Spaß gemacht? Nein. Der kleine Paul Philipp Freudenberger durfte sich nicht dem Fotografen zudrehen. Seine Erzieherin verbot es – denn er war Jude.
Die Fotografie aus dem Jahr 1932 zeigt, dass Antisemitismus schon vor Hitlers Machtübernahme Alltag war. Und dass auch Kinder ihn zu spüren bekamen. »Kinder tauchen in den Verfolgungsgeschichten nicht als selbstständig handelnde Personen auf«, erklärt Rotraud Ries, Leiterin des Johanna-Stahl-Zentrums in Würzburg. »Mit ihnen wurde etwas gemacht. Und auf diese besonderen Schicksale und Lebensumstände wollen wir aufmerksam machen.«
Schicksale Die Einrichtung erforscht die Geschichte und Kultur der unterfränkischen Juden und vermittelt sie der Öffentlichkeit. In der Sonderausstellung »Jung, jüdisch, unerwünscht« werden die Schicksale von Kindern und Jugendlichen in den Jahren 1920 bis 1950 erzählt. »Diese stehen eben normalerweise nicht im Fokus historischer Untersuchungen. Unser Ansatz ist aber, die gesamte jüdische Gesellschaft in den Blick zu nehmen«, so Ries.
Und deshalb war der Besuch von ehemaligen Würzburger Juden im vergangenen Jahr eine gute Gelegenheit, Informationen aus erster Hand zu bekommen. 23 emigrierte Schoa-Überlebende folgten der ersten offiziellen Einladung aus ihrer ehemaligen Heimatstadt. Als Kinder und Jugendliche waren sie dem Nazi-Regime durch Flucht oder Kindertransporte entkommen; oder hatten dem brutalen Alltag in den Konzentrationslagern standgehalten. Dem Team des Johanna-Stahl-Zentrums erzählten sie ihre Geschichten, suchten alte Fotos heraus und brachten historische Dokumente mit, die jetzt für die Ausstellung verwendet wurden.
ALLEIN Gezeigt wird nun ein Ausschnitt aus dem 32 Seiten langen Bericht, den der Würzburger Herbert Mai nach seiner Befreiung an Verwandte in den USA schickte. Dort beschreibt er die Deportation 1941. Zwölf Jahre alt war er damals. Mai erzählt von der schweren Arbeit in den Lagern, sie war seine einzige Chance zu überleben.
Der Verlust beider Eltern im Sommer 1944 machte den 15-Jährigen zum Waisen: Alleine überstand er den Weitertransport ins KZ Stutthof und den Todesmarsch im Januar 1945. Das Erlebte hat sich ihm tief eingeprägt, davon zeugt der detailreiche Bericht und auch das, was Herbert Mai nach fast 70 Jahren im Zeitzeugeninterview erzählt: »Nach einem Appell sind meine Mutter und mein Vater nicht mehr zurückgekommen. Da hab’ ich zwei, drei Tage lang geweint. Ich war ganz allein, hab’ keinen Bruder, keine Schwester, keinen Onkel, keine Tante mehr gehabt.«
biografie 280 Kinder und Jugendliche wurden direkt aus Unterfranken deportiert. Außer Herbert Mai haben nur acht weitere von ihnen die Lager überlebt. Alle anderen waren zu jung oder zu schwach, um zu arbeiten, oder sie fielen der Willkür der Nationalsozialisten zum Opfer. So wie die Biografie von Herbert Mai Beispiel gibt fürs Überleben gibt es in der Ausstellung auch Geschichten von Kindern, die den Holocaust nicht überlebten.
Zentrums-Leiterin Rotraud Ries: »An diesen Einzelbeispielen wird sehr deutlich, wie ungeheuerlich das eigentlich war: das Ziel, eine ganze Gesellschaftsgruppe auszulöschen.« Neben der Deportation und dem Überleben berücksichtigt die Ausstellung das ganze Spektrum an Schicksalen, die jüdischen Kindern und Jugendlichen im Nationalsozialismus widerfuhren.
Sie erzählt, wie Norbert Schmiedeck mit 17 zu einer abenteuerlichen Flucht in Richtung Portugal aufbrach und wie er zwei Jahre lang immer wieder scheiterte, bis er endlich in Lissabon das Schiff Richtung Amerika besteigen konnte.
Kindertransport Beschrieben ist auch die Geschichte von Hannah Weinberger, die als älteste von drei Geschwistern mit dem Kindertransport nach England geschickt wurde. Sie überlebte als einziges Familienmitglied. Von dem kleinen Bruder und der Schwester konnte sich Hannahs Mutter nicht trennen, weshalb alle drei deportiert und ermordet wurden.
Die Kinder und Jugendlichen von damals sind heute die letzte Generation der Holocaust-Überlebenden und selbst in die Jahre gekommen. Die Geschichten dieser jüdischen Unterfranken sind im Würzburger Johanna-Stahl-Zentrum noch bis zum 13. Oktober ausgestellt. Ihre Erinnerungen sind darüber hinaus als Zeitzeugeninterviews auf Video festgehalten und verbleiben dauerhaft in der Einrichtung.
Begleitend zur Ausstellung hält Andrea Hammel am 30. Juli um 19.30 Uhr in der Jüdischen Gemeinde Shalom Europa, Valentin-Becker-Straße 11, den Vortrag: »Kindertransporte«