Freiburg

Noch einmal zurück

Die Schoa-Überlebende Ronia Beecher fuhr die Fluchtroute ihrer Eltern ab. Ein Filmteam begleitete sie

von Anja Bochtler  02.08.2023 20:17 Uhr

Ronia Beecher reiste an ihren Geburtsort. Foto: Thomas Kunz

Die Schoa-Überlebende Ronia Beecher fuhr die Fluchtroute ihrer Eltern ab. Ein Filmteam begleitete sie

von Anja Bochtler  02.08.2023 20:17 Uhr

Ronia Beecher ist 86 Jahre alt und hat ihre Familie mitgebracht, als sie zurück an den Ort ihrer frühen Kindheit kommt: Ihre Töchter Judi und Andrea Beecher begleiten sie, ihr 97-jähriger Mann ist übers Smartphone von zu Hause in New York aus zugeschaltet, und zumindest symbolisch sind auch Ronia Beechers Eltern mit dabei – sie hat die Eheringe der beiden mit nach Freiburg genommen.

Mit an diesen Ort an der belebten Kaiser-Joseph-Straße 149, wo Stolpersteine an Adolf Paul Reutlinger, seine Frau Alice und ihre Tochter Ronia erinnern. Im Oktober 1940 waren sie unter den rund 6500 Jüdinnen und Juden in Baden, die ins südfranzösische Lager Gurs deportiert wurden.

Stolperstein Ronia Beecher wird beim Besuch des alten Familienhauses, vor dem die Stolpersteine liegen, nicht nur von ihrer Familie begleitet: Neben der Freiburger Stolperstein-Initiatorin Marlis Meckel sind Jugendliche der Geschichtswerkstatt der Lessing-Realschule gekommen, wo im Nationalsozialismus zeitweise eine Zwangsschule für jüdische Kinder untergebracht war.

Durch die Geschichtswerkstatt-Gründerin Rosita Dienst-Demuth, die lange an der Schule unterrichtet hat, waren die Töchter von Ronia Beecher vor einigen Jahren auf ihren Großvater gestoßen: Paul Adolph Reutlinger war einer der letzten Lehrer an der Zwangsschule.

Vor sechs Jahren folgte die erste Reise: Ronia Beecher und ihre Töchter fuhren unter anderem nach Offenburg, wo Ronia Beechers Großeltern eine Metzgerei hatten. Außerdem nach Lörrach, Ronias Geburtsort, nach Freiburg, wo die Reutlingers später lebten, und in die Schweiz, wo sie Zuflucht fanden. Jetzt haben die drei New Yorkerinnen ihre Spurensuche erweitert. Und wieder begleitet Judi Beecher, die Schauspielerin und Regisseurin ist, alles mit der Kamera – aus ihrem Familien-Erinnerungsprojekt wird ein Dokumentarfilm.

Diesmal waren Ronia Beecher und ihre Töchter unter anderem in Rivesaltes, wo die Männerbaracke, in der Ronia Beechers Vater leben musste, immer noch steht. Von dort aus gingen sie zum Bahnhof, genau wie Alice und Paul Adolf Reutlinger Jahrzehnte früher, als ihnen die Flucht aus dem Lager gelungen war.

Montpellier Am Bahnhof setzten sich Ronia Beecher und ihre Töchter in einen Zug nach Montpellier, die Strecke, die ihre Eltern damals gefahren waren. Sie wollten nachempfinden, was geschehen war. Die Eltern hatten auf dem Weg zum Bahnhof einen Polizisten getroffen. Als der Vater ihm eher beiläufig von seinem Tabak anbot, ließ er sie weiterziehen. Im Zug saß ein Mann, der sie aus dem Lager kannte. Sie erzählten ihm ihre Geschichte, daraufhin war auch er bereit, sie zu schützen.

Ronia Beecher hat all das nicht miterlebt. Sie hatte sich als Vierjährige von ihren Eltern trennen müssen, damit sie von Rettern ins Château des Avenières in Cruseilles gebracht werden konnte, zu anderen Kindern. Eineinhalb Jahre lang lebte sie mit dem verstörenden Eindruck, dass ihre Eltern sie verlassen hätten. Später gelang es ihnen, sie mit Unterstützung der Kinderhilfsorganisation »Oeuvre de Secours aux Enfants« (OSE) zu sich in die Schweiz zu holen. Die Gefühle, die sie als kleines Mädchen hatte, hat Ronia Beecher tief in sich vergraben.

Vor einiger Zeit habe sie bei einer Meditation den bohrenden Schmerz noch einmal gespürt, erzählt sie – psychisch, aber auch körperlich, im Magen. Bis in die 80er-Jahre sprach sie in den USA, wohin die Familie 1946 emigrierte, mit niemandem über ihre Geschichte.

hoffnung Jetzt in Freiburg ist der für Ronia Beecher wichtigste Moment, als bei der Stolperstein-Gedenkfeier die 17-jährige Gioia Roberto auftritt: Sie erzählt, wie sehr sie der Besuch von Ronia Beecher an der Lessing-Realschule vor einigen Jahren aufgewühlt hat. Das gebe ihr Hoffnung, sagt Beecher.

Sie ist sehr besorgt über den Zustand der Welt – die rechten Tendenzen überall, die vielen Menschen, die große Teile der Realität nicht mehr zur Kenntnis nehmen. Mit ihren Töchtern setzt sie ein Zeichen gegen den Hass.

Die Doku »Run Ronya – The Kindness of Strangers« kann unterstützt werden.

Chanukka-Umfrage

»Wir brauchen das Licht«

Was für Lieblingssymbole haben Gemeindemitglieder? Und wie verbringen Familien das Fest, wenn ein Partner Weihnachten feiern möchte? Wir haben nachgefragt

von Brigitte Jähnigen, Christine Schmitt  25.12.2024

Berlin

Wenn Hass real wird

Die Denkfabrik Schalom Aleikum beschäftigt sich mit dem gesellschaftlichen Einfluss sozialer Medien

von Alicia Rust  23.12.2024

Interview

»Wir sind neugierig aufeinander«

Amnon Seelig über die erste Konferenz des Kantorenverbandes, Lampenfieber und das Projekt Call a Kantor

von Christine Schmitt  22.12.2024

Porträt der Woche

Ein Signal senden

David Cohen ist Geschäftsführer eines Unternehmens und setzt sich gegen Judenhass ein

von Matthias Messmer  22.12.2024

Soziale Medien

In 280 Zeichen

Warum sind Rabbinerinnen und Rabbiner auf X, Instagram oder Facebook – und warum nicht? Wir haben einige gefragt

von Katrin Richter  20.12.2024

Hessen

Darmstadt: Jüdische Gemeinde stellt Strafanzeige gegen evangelische Gemeinde

Empörung wegen antisemitischer Symbole auf Weihnachtsmarkt

 19.12.2024 Aktualisiert

Debatte

Darmstadt: Jetzt meldet sich der Pfarrer der Michaelsgemeinde zu Wort - und spricht Klartext

Evangelische Gemeinde erwägt Anzeige wegen antisemitischer Symbole auf Weihnachtsmarkt

 19.12.2024

Hessen

Nach Judenhass-Eklat auf »Anti-Kolonialen Friedens-Weihnachtsmarkt«: Landeskirche untersagt Pfarrer Amtsausübung

Nach dem Eklat um israelfeindliche Symbole auf einem Weihnachtsmarkt einer evangelischen Kirchengemeinde in Darmstadt greift die Landeskirche nun auch zu dienstrechtlichen Maßnahmen

 19.12.2024

Ehrung

Verdiente Würdigung

Auf der Veranstaltung »Drei Tage für uns« wurde der Rechtsanwalt Christoph Rückel ausgezeichnet

von Luis Gruhler  19.12.2024