Erich Oppenheim steht aus seinem Rollstuhl auf. Der 93-jährige Mann stützt sich auf einen Stock und geht die letzten Schritte zu einer kleinen, alten Fachwerk-Synagoge allein. Es ist 80 Jahre her, dass er zuletzt über diese Schwelle getreten ist: 1935 bei seiner Barmizwa. Am Tag darauf schickten seine Eltern den damals 13-Jährigen gemeinsam mit einem älteren Bruder in die rettenden USA.
An diesem 4. Mai 2015 ist Erich Oppenheim zurückgekehrt, allerdings an einen Ort, an dem er noch nie war: Die Synagoge aus dem hessischen Nentershausen, die er als Junge besuchte, hat das »Dritte Reich« zwar überstanden, steht heute aber mehr als 160 Kilometer von dem Dorf entfernt im Freilichtmuseum Hessenpark. Oppenheim ist hierhergekommen, um noch einmal in seiner Synagoge zu beten, um aus dem Buch der Propheten zu lesen, denn dazu war es wegen seiner Flucht nach seiner Barmizwa nicht mehr gekommen.
vier Generationen Oppenheim ist nicht allein. »Es sind heute vier Generationen hier«, sagt sein Sohn Lee, der den Vater gemeinsam mit seiner Schwester und deren Tochter, seinem Sohn und dessen Frau sowie deren Söhnen begleitet. Erich Oppenheim freut sich, dass seine Urenkel Nachson und Shimshon gekommen sind. Sie leben beide in Israel. »Ich denke, sie sollten diese Dinge kennen«, sagt er. Einer der beiden werde bald Barmizwa, mit derselben Parascha wie er selbst vor 80 Jahren.
1982 ist er schon einmal in Nentershausen gewesen. Nur durch Zufall hatte Oppenheim erfahren, dass die Synagoge noch existiert und dass sie heute auf einem Museumsgelände steht. Er schrieb dem Hessenpark und erzählte von seinem Anliegen. Die Museumsleitung stimmte seinem Wunsch sofort zu und fragte die nächstgelegene jüdische Gemeinde, ob sie helfen könne, zum ersten Mal in der rekonstruierten Synagoge einen Gottesdienst zu feiern und genug Beter einzuladen, um einen Minjan zu bilden.
Die Gemeinde Bad Nauheim zögerte nicht lange und sagte zu. Tatsächlich sind am Montagmorgen etwas mehr als zehn Männer versammelt, um mit Oppenheim zu beten. Viele von ihnen sind nur wenig jünger als er. Sie sitzen auf den Holzbänken in dem engen Gebetsraum, dessen Decke mit goldenen und blauen Davidsternen verziert ist.
Die Synagoge aus Oppenheims Kindheit wurde in den 80er-Jahren im Hessenpark rekonstruiert, weil sie in der NS-Zeit zwar nicht zerstört wurde, aber nicht mehr an Ort und Stelle renoviert werden konnte. Erbaut wurde das Haus vermutlich Ende des 18. Jahrhunderts. Im November 1938 wurde die Synagoge bei den Pogromen verwüstet, die Schriften verbrannt.
Bis heute steckt auf der Frauenempore ein abgebrochenes Sägeblatt in einem Holzpfeiler, den Deutsche wohl zu durchtrennen versuchten, um das Dach zum Einsturz zu bringen. Ohne Erfolg: Die Synagoge wurde schließlich verkauft und als Garage, Scheune und Werkstatt genutzt. Der hölzerne Toraschrein mit der goldenen Schrift, vor dem Oppenheim damals betete und der 1938 schwer beschädigt wurde, ist heute in Washington im Holocaust Memorial Museum.
Abschied »Ich saß stets neben meinem Vater«, erzählt Oppenheim schließlich auf Englisch, als er, einen Tallit um die Schultern, nach vorne tritt, um zu lesen. An diesem Tag sitzen dort, links vorne am Fenster, sein Sohn, sein Enkel und seine Urenkel. »Das ist unglaublich«, sagt er. Am Tag nach seiner Barmizwa hat er nicht nur sein Heimatdorf zum letzten Mal gesehen, sondern auch seine Eltern, erinnert sich Oppenheim. »Sie haben sich für mich geopfert.«
Beide überlebten die Schoa nicht, auch zwei seiner Brüder wurden ermordet, eine Schwester durch einen »Kindertransport« nach England gerettet. Der 93-Jährige ist auch wegen seiner Eltern aus Baltimore nach Hessen gekommen. Sie hatten bereits 1935 die weitsichtige Entscheidung getroffen, ihre ältesten Kinder mit einem Schiff in die USA zu schicken.
»In Erinnerung an meine Mutter, die auf der Straße stand und uns weggehen sah«, sagt er, bevor er zu lesen beginnt. Dann wird es ganz still. Oppenheim liest leise, aber flüssig. Seine Stimme zittert ab und an, als er endlich vorträgt, was er vor 80 Jahren bereits hätte lesen sollen. »Masel Tov!«, ruft Vorbeter Benni Pollak aus Bad Nauheim, als Oppenheim fertig ist. Sein Enkel Itzhak legt Oppenheim zärtlich die Hand auf die Schulter. Wenige Minuten später ist der Gottesdienst zu Ende.
Minjan »So eine Bitte kann man nicht abschlagen«, sagt Monik Mlynarski, Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde Bad Nauheim und 92 Jahre alt, als er den Gebetsriemen von seiner Stirn nimmt und noch kurz an seinem Platz sitzen bleibt. Es sei aber gar nicht so leicht gewesen, genug Leute zusammenzubekommen, erzählt er. »Wir haben uns Mühe gegeben, und – Gott sei Dank – hat alles hingehauen.«
Die Bad Nauheimer Gemeinde hat aber nicht nur Beter, sondern auch eine ihrer Torarollen mit in den Museumspark gebracht. »Es ist nicht selbstverständlich, dass man eine Torarolle transportieren darf«, erklärt Pollak, der auch Religionslehrer ist. »Aber für so einen Fall darf man eine Ausnahme machen.« Die Rolle sei auf der Fahrt in einen Tallit gehüllt worden, um sie zu schützen.
Eine Ausnahme sei es auch, dass an einem Wochentag aus den Büchern der Propheten gelesen werde, erklärt er. »Aber heute Nacht war Vollmond, es war die zweite Chance, Pessach zu feiern, Pessach Scheni, das zweite Pessach (ab dem 14. Iljar) – für alle, die das am Feiertag nicht konnten«, sagt Pollak. »Ich denke, es war auch eine zweite Chance für Erich Oppenheim. Es
ist mir eine große Ehre, ihn bei seinem Wunsch zu unterstützen«, sagt Pollak.
Besuchsprogramm Am Tag darauf will Oppenheim mit seiner Familie in Nentershausen das Grab seiner Großmutter auf dem jüdischen Friedhof besuchen. Der Bürgermeister wird die Familie in dem kleinen Ort empfangen. Oppenheims Elternhaus ist inzwischen abgerissen, es ist einem Parkplatz gewichen. Ehemalige Nachbarn will er treffen, und er freut sich, die große Linde im Zentrum des Dorfes wiederzusehen.
»Seine Eltern und die beiden jüngeren Brüder wurden am 30. Mai 1942 aus ihrem Haus deportiert«, erklärt Monica Kingreen vom Pädagogischen Zentrum des Fritz-Bauer-Instituts und des Jüdischen Museums Frankfurt. Sie begleitet die Oppenheims in diesen Tagen und kennt die Familiengeschichte. Gemeinsam mit mehreren Hundert Menschen aus den umliegenden Dörfern waren Oppenheims Eltern und Brüder schließlich von Kassel aus mit einem Zug in Richtung Osten verschleppt worden. Die Brüder starben im KZ Majdanek. Oppenheims Mutter wurde wenig später im Vernichtungslager Sobibor ermordet. Die Spur des Vaters verliere sich, sagt Kingreen. Den Transport aus Kassel habe aber niemand überlebt, weiß man heute.
dankbarkeit Doch jetzt gerade überwiegt die Dankbarkeit, dass er seinen Wunsch erfüllt bekam. Im Anschluss an den Gottesdienst sorgt die Bad Nauheimer Gemeinde für eine koschere Stärkung: Auf einer Bank in der Synagoge stehen Mazzot, Schnittchen mit Fisch, Wasser – und Wodka. Erich Oppenheim bedankt sich derweil bei den Gemeindemitgliedern, dass sie ihm ermöglicht haben, den Gottesdienst zu feiern. »Thank you for being here«, sagt er mit einem Stück Mazze in der Hand. Er versteht und spricht Deutsch, im Alltag und mit seiner Familie verwendet er die Sprache jedoch nicht.
Als Oppenheim nach draußen tritt, wirkt er fast etwas erleichtert. Ist es noch die Synagoge seiner Kindheit? »Sie ist anders – sie ist älter geworden, wie wir alle.« Die Inneneinrichtung sei damals eine andere gewesen, die Bima rund. »But they did a nice job«, sagt Oppenheim über die Rekonstruktion. Er erinnert sich auch daran, dass man sich zu jener Zeit zum Lesen nicht so weit vorbeugen musste, wenn man sich von den Bänken erhob. Sie waren höher, sagt er. Vielleicht lag das aber auch daran, dass er damals erst 13 war. »Wer kann sich nach 80 Jahren noch genau erinnern?«, fragt er.
Genau erinnern kann er sich aber an das Datum, an dem er Nentershausen verlassen musste. Keine Sekunde muss Oppenheim nachdenken: Es war der Tag nach seiner Barmizwa, der 27. Januar 1935.