Vorlesen

Noa und der Kobold

Vorlesen stärkt Kinder – und Eltern. Foto: Getty Images

Immer wieder holt Noa die Geschichte vom »Zauberdreidel« hervor und will sie vorgelesen bekommen. Vielleicht, weil gerade Chanukka war und der Zauber des Lichterfestes für das dreijährige Mädchen noch anhält. Vielleicht aber auch, weil die Geschichte, die vom PJ-Library-Programm verschickt wurde, etwas Sonderbar-Merkwürdiges und gleichzeitig Faszinierendes hat. Ein Kobold, der in einem Brunnen sitzt, lässt den Dreidel eines kleinen Jungen verschwinden und verspricht ihm dafür einen besseren, einen, der Latkes und Chanukka-Geld hervorzaubert.

Es geht um Themen wie Neid und Habgier, aber auch um Familie und Gemeinschaft. Die kleine Noa versteht noch nicht die ganze Tiefe der Geschichte, aber sie weiß sehr wohl, dass die Zeit, wenn Mutter oder Vater ihr eine Geschichte vorlesen, etwas Besonderes ist. Dann kuschelt sie sich an sie und nimmt alles auf, was eine Dreijährige in einem solchen Moment absorbieren kann.

Kinder, denen von klein auf vorgelesen wird und die später selbst viel lesen, sind sensibler und anderen Menschen gegenüber eher interessiert und mitfühlend. Das belegen wissenschaftliche Studien immer wieder. Denn durch das Lesen erlebe das Kind modellhaftes Handeln, sagt Leseforscherin Simone C. Ehmig, Leiterin des Ins­tituts für Lese- und Medienforschung der »Stiftung Lesen«. »Es sieht, welche Probleme Menschen haben und wie sie damit umgehen. Dadurch wächst ein Repertoire an Verhaltensmodellen heran, die es im eigenen Leben einsetzen kann.«

Das Vorlesen ebnet einem Kind den Zugang zum eigenen Lesen – lange bevor es in der Lage ist, Buchstaben zu entziffern

Das Vorlesen ebnet einem Kind den Zugang zum eigenen Lesen – lange bevor es in der Lage ist, Buchstaben zu entziffern. »Vorlesen ist ein intimer Prozess, bei dem Kinder und Eltern Zeit miteinander verbringen«, so die Leseforscherin. Und das werde in der Erinnerung als positive Erfahrung verbucht. Das bestätigt auch Jardena Lang, Lehrerin und Sozialarbeiterin in Ausbildung sowie Mutter zweier Töchter im Alter von sechs und acht Jahren. Sie erinnere sich gut daran, wie ihre Mutter ihr vorgelesen habe. »Bei Astrid Lindgrens Tomte und der Fuchs gab es diese Stelle, als der Fuchs sich anschleicht. Sie sagte es auf eine ganz eigene Art und Weise, wie der Fuchs ›schleicht und schleicht, damit ihn niemand hört‹. Das fand ich als Kind unglaublich faszinierend. Und heute erzähle ich es meinen Kindern genauso.«

Beim Vorlesen erinnere sie sich plötzlich wieder an Worte oder Bilder aus ihrer Kindheit. So liest Jardena Lang ihren Kindern neben den PJ-Büchern auch Kinderbuchklassiker vor, von Grimms Märchen über Astrid Lindgren bis zu modernen Texten, und stellt fest, dass es Bücher gebe, die Eltern gern vorlesen, während die Kinder sich vor allem die Bilder anschauen. »Aber natürlich gibt es auch Bücher, die die Kinder von sich aus gern hören und die ihnen den Einstieg ins Lesen vereinfachen.« Es sei ihr und ihrem Mann wichtig, dass den Kindern der Übergang zum selbstständigen Lesen gelinge.

Gute Lesefähigkeiten sind die Basis

Lesen ist ein Vorgang, der trainiert werden muss – genauso wie Tennis. Hier helfe nur Übung, sagt Ehmig. Bei Anfängern bewegt sich der Blick ähnlich rastlos über einen Text wie ein Tennisspieler über den Platz: Begleitet von abrupten Stopps und längeren Pausen, müssen Kinder anfangs einen Buchstaben nach dem anderen entziffern. Oft wissen sie am Ende eines langen Wortes nicht mehr, was am Anfang stand. Ihr Blick springt beim Lesen durchschnittlich zwei bis drei Mal zu einem Wort zurück, um es zu fixieren, was nach einer gewissen Zeit automatisch passiert. Gute Lesefähigkeiten sind denn auch die Basis für das Lernen anderer Fächer, egal ob Mathematik oder Geschichte. Außerdem weckt Lesen Neugierde und Wissensdurst.

Deshalb beobachten viele Experten mit Sorge, dass das Lesen vor allem Jugendlichen zunehmend schwerfällt. Ein Problem, das auch Michael Anger beschäftigt, Schulleiter des Albert-Einstein-Gymnasiums in Düsseldorf: »Lesen ist für Jugendliche zur Arbeit geworden, da die sozialen Medien uns bedienen und bewegte Inhalte in Form von Bildern und Ton lebendiger wirken als das geschriebene Wort. Fantasiebildung bleibt dabei leider auf der Strecke.« Wie Anger auch in seiner Schule feststellt, werde das Buch immer seltener zur Hand genommen, dabei sei »Lesen die Kernkompetenz schlechthin«, wenn es um Bildung geht. »Diesen Spagat muss zunehmend die Schule erfüllen, da die Eltern ja auch nur noch Social Media und KI benutzen. Wir als Ort der kulturellen Bildung haben damit eine hohe Verantwortung.«

Ein wichtiges Vorbild für die Kinder sind die lesenden Eltern.

Das würden Eltern und Gesellschaft bei der Diskussion um Unterrichtsinhalte oft übersehen, so Anger. Er stelle auch fest, dass Jungen eindeutig weniger gern und seltener lesen als Mädchen. Zudem seien die Themen oft andere, eher technische Natur und lieber Magazine als Bücher. Deshalb empfehle er, »Jungen alles lesen zu lassen, was sie wollen. Morgens am Frühstückstisch die Verpackungstexte, nachmittags die Bedienungsanleitung vom Auto der Eltern. Hauptsache Text«.

Dem stimmt auch Leseforscherin Ehmig zu: »Gerade in einer technologisierten Welt ist Lesen unverzichtbar.« Auch in den digitalen Medien. Wichtiges Vorbild seien die lesenden Eltern. An diesem Punkt müssten sie ansetzen.

Schuldirektor Anger plädiert auch dafür, Kindern und Jugendlichen wieder mehr Zeit zu geben. »Als Lehrkraft würde ich versuchen, auch einmal das ganze Buch zu lesen anstatt nur Auszüge und Wikipedia-Zusammenfassungen. Und Eltern rate ich, die Kinder im Urlaub zum Lesen zu ermuntern. Im Alltag ist oft zu wenig Zeit, aber wenn es im Urlaub eine Vereinbarung gibt, dass jeder ein Buch lesen muss, kann das funktionieren – wenn die Eltern auch lesen.«

Die PJ Library wurde von der Harold Grinspoon Foundation ins Leben gerufen

Hier setzt auch die PJ Library an. Das Projekt wurde von der Harold Grinspoon Foundation, einer nordamerikanischen jüdischen NGO, ins Leben gerufen und gilt seit 2005 als jüdisches Alphabetisierungsprogramm für Familien mit kleinen Kindern.

Im deutschsprachigen Raum hat sich der Zentralrat der Juden des Projekts angenommen und die Bücher übersetzen lassen. So können in Deutschland, Österreich und der Schweiz kostenlos Bücher abonniert werden. Zusammen mit dem vom Zentralrat entwickelten Programm Mischpacha, das zu den Feiertagen Boxen mit altersgerechten Spielsachen, Bastelideen, Gebeten, Backrezepten und Geschichten für Kinder bis fünf Jahre verschickt, möchte es jungen Familien jüdische Tradition und Werte vermitteln.

Diese Angebote werden auch an jüdischen Schulen in Deutschland angenommen. Die PJ Library biete eine Vielfalt an Geschichten, die mit jüdischen Erzählungen und Themen verknüpft sind, und »diese helfen dabei, die Verbindung der Kinder zu ihrem Judentum insgesamt zu stärken«, sagt Irit Aviad, Lehrerin für Hebräisch und Religion an der Heinz-Galinski-Schule in Berlin. »Einige der Geschichten sind Klassiker der jüdischen Kultur, die die Eltern aus der eigenen Kindheit kennen«, was eine weitere Verbindung, zwischen Kindern und Eltern schaffe. Als Lehrerin sehe sie zudem einen Vorteil darin, dass die Themen in interaktive Aktivitäten für die Kinder eingebunden werden könnten. So werde das Lesen zu einem ganzheitlichen, kreativen Erlebnis. »Zum Beispiel lesen wir im Monat Schwat an Rosch Chodesch das Buch Ein Korb voller Feigen. Die Kinder nehmen das Lesen als Teil der Aktivität wahr und nicht als verpflichtende Aufgabe.« Die Bücher würden auch dabei helfen, den Kindern die Feiertage und manchmal die hebräische Sprache näherzubringen.

Doch liege neben der Leseaktivität in der Schule auch viel Verantwortung bei den Eltern, sagt Aviad: »Wenn zu Hause das Lesen unterstützt wird, sind die Kinder auch offener dafür. Pro Abend 15 Minuten eine Gute-Nacht-Geschichte, heißt es oft. Als Mutter weiß ich, dass das nicht immer funktioniert. Wichtig ist, dass die Atmosphäre angenehm für das Kind und den Elternteil ist, damit das gemeinsame Lesen zu einem positiven Erlebnis wird.«

Gute Geschichten gibt es viele. Egal, ob moderne Märchen oder Klassiker

Dieser Meinung ist auch Julie Form. Meistens könne sie mit ihren Kindern nur abends lesen, »aber es spielt keine große Rolle, wann wir lesen. Die Kinder genießen die Kuschelzeit, und wir auch«. Wichtig seien der Austausch und der Dialog, findet die dreifache Mutter aus Berlin. »In unserer Familie legen wir viel Wert darauf, wie wir vorlesen und ob wir mit den Kindern auf das Gelesene eingehen. Egal, ob wir etwas im Bild suchen, Fragen diskutieren und einfach nur über die Geschichte sprechen.«

Form ist Logopädin und sieht in ihrer täglichen Arbeit mit Kindern mit Sprachentwicklungsstörungen etliches, das sie besorgt. »Vielen Kindern wird nicht vorgelesen. Das ist sehr schade, weil Vorlesen eine einfache Möglichkeit ist, die Sprachentwicklung zu fördern, Weltwissen zu gewinnen, die Fantasie anzuregen und die Bindung zu stärken.« Selbstverständlich werde Kindern, denen vorgelesen wird oder die selbst viel lesen, dabei auch eine vielfältige, kunstvolle Sprache vermittelt. »Der Wortschatz, den sich Kinder und Jugendliche beim Lesen aneignen, ist unersetzlich. Sie lernen dabei auch alte Wörter, oder wie sich am Beispiel von PJ Library zeigt, jüdische Begriffe, die zur kulturellen Identität beitragen. So einfach wie an die Geschichten der PJ Library kommt man sonst nicht an altersgerechte Bücher heran.« Natürlich sei der Gang in die Bücherei erstrebenswert, aber wem die Bücher frei Haus geliefert werden, der könne mit dem Vorlesen sofort beginnen.

»Vorlesen fördert die Sprachentwicklung, regt die Fantasie an und stärkt die Bindung.«

Julie Form

Die 42-Jährige, die selbst Kindergeschichten schreibt und vor Kurzem mit dem Jewish Children’s Book Award des Londoner Verlags Green Bean Books ausgezeichnet wurde, findet: »Ich sehe es bei meinen eigenen Kindern. Auch wenn ein altes Märchen die Aufmerksamkeit meines Sohnes nicht sofort gewinnt, so kann es ihn irgendwann doch in seinen Bann ziehen. Kinder finden manchmal erst später an einer Geschichte Gefallen, und ich bin oft erstaunt, wie auch alte Sagen die Kinder von heute ansprechen.«

Das Spektrum der PJ-Bücher sei so groß, dass Kinder unterschiedlichster Herkunft und mit unterschiedlicher jüdischer Identität sich irgendwo darin finden. Ihrer Meinung nach dürfte PJ Library noch etwas frecher und witziger werden, sagt Form. »Je näher an der Lebenswelt der Familien in den Geschichten interagiert wird, desto mehr erkennen sich die jungen Leserinnen und Leser wieder.«

Dabei ist klar: Texte, in denen Situationen realistisch und Menschen vielschichtig präsentiert werden, lassen Raum für Interpretation und Identifizierung. Doch letztlich kommt es auch für Julie Form hauptsächlich darauf an, ob es eine gute Geschichte ist. »Moral und Message sollten nicht zu gewichtig daherkommen. Ich wünsche mir für meine Kinder einfach gute Geschichten.«

Und gute Geschichten gibt es viele. Egal, ob moderne Märchen oder alte Klassiker – Hauptsache, sie werden gelesen! Wenn es sein muss, auch 20-mal, so wie bei der kleinen Noa und dem faszinierenden Kobold.

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