Mitte des 19. Jahrhunderts wütete weltweit eine Cholera-Pandemie. Auch die jüdische Welt war betroffen, viele Menschen starben. An Jom Kippur 1848 stand einer der bekanntesten Rabbiner des 19. Jahrhunderts, Rabbi Israel Salanter, in der Synagoge von Wilna. Der Rabbi war Gründer der Mussar-Bewegung, die dazu aufrief, das eigene Handeln und sich selbst gemäß der jüdischen Moral zu verbessern.
Er schenkte Wein ein und machte Kiddusch, aß anschließend ein Stück Kuchen und bat alle, ob krank oder nicht, dasselbe zu tun, um nicht von der Pandemie betroffen zu werden. Ähnlich verhielt es sich bei Rav Abraham Isaak Kook (1865–1935). Als im litauischen Žeimelis, wo Kook als Rabbiner amtierte, die Cholera wütete, machte er das Gleiche wie Rav Salanter in Wilna.
autorität Selbstverständlich diskutieren manche heute, ob es sich tatsächlich genau so zugetragen hat. Wahrscheinlich wurde es erlaubt, nur sehr wenig zu essen (an Jom Kippur ist Kranken erlaubt, eine bestimmte Menge zu sich zu nehmen). Doch sogar Rav Moshe Feinstein (1895–1986), dessen Autorität unter allen Rabbinern unbestreitbar ist, zitiert die Geschichte aus Vilnius.
Er schließt daraus, dass auch gesunden Menschen, falls sie in Gefahr sind, wie es bei einer Pandemie der Fall ist, bestimmte Dinge, die in der Regel verboten sind, dann aber erlaubt werden (Igrot Moshe, Orach Chajim, 3, 91).
Seit beinahe zwei Jahren leidet die Welt unter der Corona-Pandemie. Das Leben hat sich verändert. Kleine Kinder kennen es gar nicht anders, als Masken zu tragen und Abstand zu halten. Wir Erwachsenen vergessen mitunter das Gefühl, die Hand der anderen zu drücken und deren Kälte oder Wärme zu spüren.
Laut dem Talmud erhalten die Ärzte von G’tt die Weisheit und die Erlaubnis, uns zu heilen.
Laut dem Talmud erhalten die Ärzte von G’tt die Weisheit und die Erlaubnis, uns zu heilen (Baba Kama 85a). Der Mensch soll sich mit Ärzten beraten, er soll sich untersuchen lassen und sich um seine gesundheitliche Situation kümmern.
Selbstverständlich, das ist ebenfalls bekannt, sind nicht alle Ärzte immer einer Meinung.
Auch da hat die Halacha klare Richtlinien für uns: Es zählt die Meinung von berühmten und bekannten Ärzten. An Jom Kippur hat beispielsweise die Empfehlung der Ärzte Gewicht, dass der Kranke essen soll. Wenn nicht alle Ärzte einverstanden sind, aber zwei verordnen, dass der Patient essen soll, dann soll er es tun (Orach Chaiim, 618, 4). Man folgt vor allem der Meinung der ausgezeichneten Ärzte (Tur).
IMPFUNGEN Niemand hat das Recht, andere Menschen zu gefährden. Genauso, wie wir die Mizwa haben, Menschen in Not zu retten (3. Buch Mose 19,16), dürfen wir niemanden in Gefahr bringen. Daher ist es dem Menschen befohlen, Geländer auf dem Dach seines Hauses anzubringen, damit niemand abstürzt (5. Buch Mose 22,8).
Nachdem die Welt bereits Erfahrungen mit Impfungen gesammelt hat, vertreten die großen Poskim, die eine bindende Entscheidung treffen können, auch zu diesem Thema klare Positionen.
So sind Rav Joseph Schalom Eljashiw (1910–2012) und Rav Schlomo Salman Auerbach (1910–1995) der Meinung, dass Eltern die Impfung ihrer Kinder nicht verhindern dürfen. Auf jeden Fall soll der Ungeimpfte mit Konsequenzen rechnen – bis hin zum Verbot des Schulbesuchs –, um andere Kinder nicht in Gefahr zu bringen (Asja,113-114, 5779, Rav Zinner, Shlita).
VERSCHWÖRUNGSTHEORIEN Dass es leider auch Rabbiner gibt, die in solchen Zeiten auf Ärzte hören, die Ängste und Verschwörungstheorien verbreiten, ist uns allen bekannt. G’tt sei Dank sind es einzelne Menschen, deren Wissen und Autorität nicht mit der der entscheidenden Poskim verglichen werden kann. Umso gefährlicher ist es, Gläubige zu sehen, die diesen Rabbinern folgen.
Menschen wollen und müssen miteinander in Kontakt bleiben.
Am Beginn der Corona-Pandemie schrieben und sprachen viele davon, dass wir nur körperliche Distanz halten sollen – aber keine soziale. Leider war das nicht immer und überall der Fall. Auch die soziale Distanz existiert und hat den Menschen nicht weniger Schaden gebracht.
In dem Bemühen, sich und andere zu schützen, entschließen sich viele Menschen dazu, keine Orte des sozialen Zusammentreffens zu besuchen, falls es nicht notwendig ist. Jeder, der krank und isoliert oder sogar nur in Quarantäne gewesen ist, weiß, dass einem das nicht guttut. Einsam zu sein, zu Hause, oder, schlimmer noch, im Krankenhaus, ohne von der Familie und Freunden umarmt zu werden, fällt dem Menschen sehr schwer.
Leider habe ich in dieser Zeit Beerdigungen von Menschen erlebt, die ganz gesund waren, aber je länger sich die Pandemie hinzog, sich immer mehr zurückgezogen und abgebaut hatten. Das ist sehr traurig.
kontakt Menschen wollen und müssen miteinander in Kontakt bleiben. Das sollten wir ihnen ermöglichen. Die Pandemie ist noch da. Wann oder ob sie jemals weg sein wird, kann im Moment niemand sagen. Im Rahmen des Erlaubten haben wir unser Bestes zu tun, um den Menschen wieder das soziale Atmen zu ermöglichen.
Man muss Abstand halten und Masken tragen. Die 2G- oder 3G-Regel, je nach konkretem Fall, soll eingehalten werden. Kinder bekommen – noch – keine Impfungen. Sie dürfen auf keinen Fall ausgeschlossen werden. Schnelltests sollen durchgeführt werden, auch bei Kindern.
Chanukka steht vor der Tür, und wir alle wollen es feiern! Wir sollten kreativ sein, um das wieder zu schaffen. Die Sufganiot werden einzeln abgepackt. Maos Zur wird gesungen, während alle Masken tragen. Bevor das Chanukkagelt verteilt wird, sollen wir unsere Hände waschen: All das ist machbar. Wichtig ist, dass wir wieder ein schönes fröhliches Fest für alle Altersgruppen anbieten und dabei zwar sämtliche physischen Abstandregeln halten, um gesund zu bleiben, sozialen Abstand aber nur halten, wenn es gar nicht anders geht.
Der Autor ist Rabbiner der Jüdischen Gemeinde Frankfurt und Vorstandsmitglied der Orthodoxen Rabbinerkonferenz Deutschland.