Das Festjahr 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland, das 2021 bundesweit mit zahlreichen Veranstaltungen gefeiert wird, sorgt auch über die Landesgrenzen hinaus für Aufmerksamkeit.
Im Jahr 321 erwähnt ein Edikt des römischen Kaisers Konstantin erstmalig eine jüdische Gemeinde in Köln. Das Dokument ist Grundlage für die Feierlichkeiten. Welche Erwartungen und Hoffnungen verbinden Vertreter der jüdischen Gemeinschaft mit dem Festjahr?
Anna Staroselski, Präsidentin der Jüdischen Studierendenunion Deutschland (JSUD):
»Jüdinnen und Juden in Deutschland prägten die deutsche Gesellschaft über Jahrhunderte und trieben sie mit voran. Jüdisches Leben in Deutschland bedeutet mehr als die Jahre zwischen 1933 und 1945. Wir haben genug vom Opfernarrativ und wollen nicht bloß mit der Schoa und dem Antisemitismus assoziiert werden. Dabei war der Judenhass jedoch nie besiegt. Er gehört nachweislich bei 20 Prozent der Deutschen zu ihrem Gedankengut.«
Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland:
»Das Festjahr bietet die großartige Chance, in der Bevölkerung ein Bewusstsein für die lange und reiche jüdische Geschichte in Deutschland zu schaffen. Viele Menschen assoziieren mit dem Judentum ausschließlich die Schoa. Wie das Judentum aber die deutsche Kultur über Jahrhunderte geprägt hat und wie heute das moderne jüdische Leben aussieht, wissen nur wenige. Wenn am Ende des Festjahres viele Menschen das Judentum als selbstverständlichen Bestandteil Deutschlands akzeptieren, hat sich die Mühe gelohnt.«
Abraham Lehrer, Vorstand der Synagogen-Gemeinde Köln und Vizepräsident des Zentralrats der Juden:
»Wir wollen mit dem Festjahr nicht ausschließlich auf die Schoa zeigen, sondern den Blickwinkel für die Zukunft weiten. Wir wollen jüdisches Leben heute in seiner ganzen Vielfalt sichtbar und erlebbar machen. Wir wollen zeigen, wer wir sind, wie wir leben und was wir zur Gesellschaft beigetragen haben und bis heute beitragen. Es ist ein wichtiger Anteil, den wir gebührend darstellen möchten. Außerdem wollen wir stereotypen und antisemitischen Darstellungen Bilder der Realität entgegensetzen und damit antijüdische Ressentiments abbauen. Wir wollen Raum für Begegnungen schaffen. Denn Begegnungen und Gespräche schaffen Nähe. Nutzen wir diese Chance.«
Anetta Kahane, Vorsitzende des Vorstands der Amadeu Antonio Stiftung in Berlin:
»Zuletzt saß ich in einem Online-Meeting mit lauter jungen, jüdischen Leuten, verteilt in ganz Deutschland. Ursprünglich kommen die meisten aus der ehemaligen Sowjetunion oder aus Rumänien. Beim Anblick dieser Menschen, die allesamt ein selbstbewusstes und vitales Judentum repräsentieren, habe ich mich sehr gefreut. Gleichzeitig habe ich mich erinnert an die Zeit, als ich jung war. Als junge Jüdin in der DDR aufzuwachsen, brachte ein ganz anderes Lebensgefühl mit sich: Es war beklemmend und eng. Jüdisches Leben wurde zwar nicht geächtet, aber auch tabuisiert, man hat einfach nicht darüber gesprochen. Heute können Juden und Jüdinnen zwar offen mit ihrer Identität umgehen, müssen sich dann aber auch oft rechtfertigen: für zum Beispiel die israelische Politik. Insgesamt beobachte ich noch immer eine große Hemmung von Nicht-Juden im Umgang mit Juden. Wir haben nach wie vor einen Exotenstatus.«
Maram Stern, Geschäftsführer des Jüdischen Weltkongresses:
»Juden gibt es auf dem Boden des heutigen Deutschland schon viel länger, als es Deutschland selbst gibt. Wir Juden haben über 1700 Jahre bedeutsam zum kulturellen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Leben im Zentrum Europas beigetragen. Es wäre Zeit genug gewesen, sich an uns zu gewöhnen. Aber viel zu oft wurden wir Opfer von Stigmatisierung und Verfolgung, und auch die Verbrechen der Schoa gingen von deutschem Boden aus. Umso mehr muss das wieder erblühende jüdische Leben der letzten Jahre geschützt werden gegen den alten und neuen Hass. Mit uns geht es besser. Wir wollen mit jüdischem Optimismus und Tatkraft auch die Zukunft in Deutschland mitgestalten.«
Aaron Knappstein, Präsident des Kölner Karnevalsvereins »Kölsche Kippa Köpp«:
»Ich blicke auf das kommende Festjahr mit gemischten Gefühlen. Es freut mich ungemein, dass wir gemeinsam dieses wunderbare Ereignis feiern können. Es zeigt auf eindrucksvolle Weise, wie das Judentum immer Teil der Geschichte dieses Landes war und weiterhin ist. Die vielen Hundert geplanten Veranstaltungen zeigen vor allem ein lebendiges Judentum in unserem Land. Aber natürlich macht es mich auch traurig, dass wir aufgrund der Pandemie so eingeschränkt scheinen. Es wäre schade, wenn wir das Festjahr nicht nutzen könnten, um die Menschen jüdischen und nichtjüdischen Glaubens zusammenzubringen. So hoffen wir, dass möglichst viele der geplanten Veranstaltungen stattfinden können.«
Jehoschua Ahrens, Mitglied der Orthodoxen Rabbinerkonferenz Deutschland:
»Ich erhoffe mir durch das Festjahr vor allem mehr Wahrnehmung der langen Zeit der jüdischen Präsenz in den deutschsprachigen Ländern, aber vor allem auch des heutigen Judentums. Juden haben lange Zeit Deutschland mitgeprägt und gerade seit der Emanzipation zu Kunst, Kultur, Wissenschaft und Wirtschaft viel beigetragen. Seit den 2000er-Jahren haben wir jetzt wieder ein wachsendes, sehr lebendiges und vielstimmiges jüdisches Leben in Deutschland, das sich nicht nur durch die Gemeinden, sondern auch durch eine Vielfalt verschiedenster Vereine, Organisationen und kreativer Initiativen ausdrückt. Jüdisches Leben heute ist aber vielen Deutschen immer noch unbekannt, und so hoffe ich, dass durch die Veranstaltungen und Feiern eine Brücke zwischen der nichtjüdischen Mehrheitsgesellschaft und der jüdischen Minderheit geschlagen wird. Gerade in Zeiten eines erstarkenden Antisemitismus wäre es wichtig, dass dieses Festjahr zu einem Abbau der vielen Vorurteile führen könnte. Juden möchten ein friedliches und gutes Miteinander in einer pluralen und toleranten Gesellschaft. Das Festjahr kann daher auch ein Impuls für eine Erneuerung des interreligiösen Dialogs sein und hoffentlich mehr junge Menschen für den Austausch der Religionen begeistern.«
Ben Salomo, Rapper und Autor:
»Wenn ich an jüdisches Leben in Deutschland denke, fallen mir sofort diese Zeilen aus meinem neuen Song ›Deduschka‹ ein: ›Wie viele Mahnmale braucht es noch, bis uns die letzte Träne aus den Augen tropft? Jüdisches Leben? Genau genommen, Synagogen, Museen, wie ausgestopft. Oder hinter schusssicherem Panzerglas, bereit für den Nächsten, der einen Anschlag plant! Warten auf das nächste Massaker, als Israelkritik getarnt, das darf man ja ...‹.«
Arkadij Khaet, Regisseur und Drehbuchautor (Masel Tov Cocktail):
»Nach dem Lutherjahr jetzt das Judenjahr. Was für ein Viertel der antisemitisch denkenden Deutschen wie eine Drohung klingen mag, ist eine gut gemeinte Initiative. Aber während jüdische Einwanderinnen und Einwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion noch immer im Rentenrecht benachteiligt werden und geradewegs in die Altersarmut steuern, klopft Deutschland sich auf die Schulter: für Artenschutz und die stabile Eichentür. Danke, Kaiser Konstantin.«