Bildungsabteilung

Neutralitätsgebot vor Erziehungsauftrag?

Lehrkräfte in Deutschland sind laut Untersuchungen der Frankfurter Soziologin Julia Bernstein schlecht auf den Umgang mit antisemitischen Ressentiments vorbereitet.

Die Pädagogen gingen in der Regel davon aus, dass es an der Schule keine jüdischen Schüler gebe und hätten wenig Kenntnis über das Judentum, sagte die Professorin an der University of Applied Sciences am Donnerstag in Frankfurt auf einer Konferenz der Bildungsabteilung im Zentralrat der Juden, die sich mit Studien zu Antisemitismus und pädagogischen Konsequenzen beschäftigt. Lehrer machten sich häufig falsche Vorstellungen vom Antisemitismus und betrachteten ihn als auswärtiges Problem, sagte Bernstein.

jugendsprache Viele Lehrkräfte wüssten über den Holocaust und über den christlichen Antisemitismus Bescheid, aber nicht über den aktuellen israelbezogenen Antisemitismus, erläuterte Bernstein. Antisemitische Ressentiments unter Schülern wie der Gebrauch des an Schulen häufigen Schimpfworts »Du Jude« würden von Lehrkräften häufig hingenommen und als Modeerscheinung oder Jugendsprache bagatellisiert.

Beispielhaft sei das Verhalten eines Schulleiters gewesen, der nicht wollte, dass über die Zeichnung eines Hakenkreuzes gesprochen werde. Der Lehrerin, die dies meldete, sei von einer Kollegin und von Schülern vorgeworfen worden, sie sei nur so sensibel, weil sie Jüdin sei.

Jüdische Schülerinnen und Schüler verheimlichten häufig aus Angst ihre Herkunft, berichtete die Soziologin von ihren Interviews.

Jüdische Schüler verheimlichten häufig aus Angst ihre Herkunft, berichtete die Soziologin von ihren Interviews. Manche versuchten, sich maximal an die nichtjüdische Umwelt anzupassen, um nicht aufzufallen. »Was fühlt ein Schüler, wenn es plötzlich ganz leise wird, wenn er sagt, dass er Jude ist?«, fragte Bernstein. »Was denken Juden, wenn ein Gericht Wahlplakate mit der Aufschrift erlaubt: Israel ist unser Unglück?« Jüdische Schüler würden oft mit antisemitischen Vorurteilen konfrontiert und fühlten sich in ihrer Notlage von Lehrkräften nicht ernst genommen.

verbale gewalt Lehrkräfte fühlten sich häufiger dem Neutralitätsgebot als dem Erziehungsauftrag verpflichtet, fasste Bernstein zusammen. Viele erklärten sich in Fällen von Antisemitismus für fachlich nicht zuständig. Wichtig wäre aber, dass Lehrkräfte bei antisemitischen Äußerungen sofort ein klares Zeichen setzten. Verbale Gewalt dürfe nicht hingenommen oder kleingeredet werden, sondern müsse ernst genommen und pädagogisch bearbeitet werden.

Die dreitägige Konferenz trägt den Titel «Antisemitismus-Studien und ihre pädagogischen Konsequenzen». Noch bis zum 6. September kommen Experten aus Politik, Pädagogik und Wissenschaft im Ignatz-Bubis-Gemeindezentrum der Jüdischen Gemeinde im Frankfurter Westend zusammen, um über Impulse zur Veränderung der deutschen Bildungslandschaft zu sprechen.

Bereits am ersten Konferenztag am Mittwoch hatte Salomon Korn, Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde Frankfurt am Main, angesichts der Zunahme judenfeindlicher Attacken betont, dass die Ängste bei den Gemeindemitgliedern wieder steigen. Die Konsequenz dürfe allerdings nicht der Rückzug sein, sagte Korn. Man dürfe sich nicht durch die dreisten Demonstrationen der Antisemiten einschüchtern lassen. Korn regte zudem an, in der wissenschaftlichen Erforschung des, in immer neuen Gewändern und mit wechselnden Rechtfertigungen auftretenden Antisemitismus nicht nachzulassen.

DISKREPANZ Harry Schnabel, Mitglied des Präsidiums des Zentralrats und ebenfalls Teil des Frankfurter Gemeindevorstandes, sprach in seinem Grußwort die Diskrepanz an, zwischen der offiziell verlautbarten Freude über das neu entstandene und gewachsene jüdische Leben in Deutschland und dem ungehinderten Hass gegen Juden in Netzwerken und Filterblasen des Internets. Auf den informellen Austausch in diesen Sphären pädagogisch Einfluss zu nehmen, werde mehr und mehr eine Herausforderung sein.

In der unmittelbaren Begegnung zwischen Menschen fehle es zuweilen an Zivilcourage, unterstrich Schnabel. So etwa im Fußballstadion, wo kaum einer wage, einem Ruf »Drecksjude« zu widersprechen, wie jüngst, als beim Europacupspiel der Frankfurter Eintracht dem israelischen Schiedsrichter eine Fehlentscheidung unterlaufen war. Schnabel wies auf Projekte des Zentralrats wie Schalom Aleikum und Likrat hin, die Jugendliche und junge Erwachsene – auch muslimische – ins Gespräch mit gleichaltrigen Juden bringen sollen, um mit ihnen über die persönliche Begegnung Vorurteile abzubauen.

Gäste des ersten Konferenztages waren auch mehrere der neu ins Amt gekommenen Antisemitismusbeauftragten, darunter Felix Klein, der Beauftragte der Bundesregierung, Bürgermeister Uwe Becker, den die hessische Landesregierung damit betraut hat, und der ehemalige Kultusminister Ludwig Spaenle, der die Aufgabe für die bayerische Staatsregierung übernommen hat, jüdisches Leben im Land zu stärken und Antisemitismus zu bekämpfen.

Klein plädierte für ein Meldesystem, das antisemitische Vorfälle an Schulen registriere. Becker betonte die Notwendigkeit, Begegnungen zu ermöglichen – ähnlich den »Meet a Rabbi«-Veranstaltungen an hessischen Schulen. Die könnten dazu beitragen, aus Vorurteilen Fragezeichen werden zu lassen. Spaenle befand, dass die Berufung von Beauftragten für jüdischen Leben Jahrzehnte zu spät komme. Der Kampf gegen den Antisemitismus müsse um eine positive Erinnerungsarbeit bereichert werden, die das historische Erbe von 1700 Jahren jüdischen Lebens in Deutschland hervorhebe. In diese Richtung dachte auch der Bundesbeauftragte Felix Klein, als er die bedeutenden Beiträge von Wissenschaftlern wie Albert Einstein oder Literaten wie Leon Feuchtwanger und Thomas Mann hervorhob.

Dass diese Vermächtnisse immer wieder von antisemitischem Grundrauschen in der Gesellschaft (Becker) überlagert würden, habe – so die These von Yael Kupferberg, Professorin am Zentrum für Antisemitismusforschung der Technischen Universität Berlin - damit zu tun, dass bereits mit dem Aufkommen des Antisemitismus im 19. Jahrhundert an die Stelle der Aufklärung das Volk getreten sei und damit Wort und Argument durch Bildhaftes wie Gemeinschaft und ethnische Zusammengehörigkeit ersetzt worden seien.  ja/epd

Lesen Sie nächste Woche in unserer Printausgabe einen ausführlichen Bericht über die Konferenz.

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