Wenn jüdische Feiertage – wie in diesem Jahr Rosch Haschana, Sukkot und Simchat Tora – mitten in der Woche liegen, haben viele Gemeindemitglieder ein Problem: Sie würden sich gerne freinehmen, doch nicht allen ist das auch möglich. Im Altenzentrum der Jüdischen Gemeinde in Frankfurt am Main zum Beispiel werden genauso viele Pflegekräfte während Rosch Haschana gebraucht wie an allen anderen Tagen im Jahr. Denn die betagten Menschen in den 174 Zimmern benötigen rund um die Uhr Hilfe beim Essen, beim Toilettengang, bei der Körperpflege. Nur der Verwaltungsbereich des Altenzentrums bleibt während der Feiertage geschlossen.
Auch im Jüdischen Krankenhaus Berlin gibt es zu Rosch Haschana nicht generell frei. Der Betrieb muss weiterlaufen. Allerdings sind viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter überhaupt keine Juden. Wer von den 550 Beschäftigten aus religiösen Gründen an Rosch Haschana oder anderen Feiertagen freihaben möchte, muss das mit den Kollegen aushandeln. Das sei aber kein Problem, versichert Sprecher Gerhard Nerlich.
SÄKULAR Arbeiten oder freinehmen? Für manche Gemeindemitglieder stellt sich diese Frage allerdings nicht. »Ich bin noch nie auf die Idee gekommen, für Rosch Haschana Urlaub zu beantragen«, sagt ein 40 Jahre alter Akademiker, Mitglied der Israelitischen Kultusgemeinde München (IKG). Aus seiner Kindheit sei ihm Erew Rosch Haschana bei seinen Eltern – säkulare Israelis – in guter Erinnerung geblieben, so der Vater von zwei Kindern.
»Es gab Bratäpfel, es war eine schöne Stimmung, wir haben zusammen gegessen und uns über das neue Jahr gefreut«, sagt das IKG-Mitglied. Mit seinen eigenen Kindern wolle er im nächsten Jahr feiern und sie mit dem Fest vertraut machen. In diesem Jahr allerdings seien die Kleinen an den Feiertagen mit seiner nichtjüdischen Frau unterwegs. »Ehrlich gesagt, ich kenne niemanden in meinem Freundeskreis, der sich an Rosch Haschana extra frei nimmt«, sagt das IKG-Mitglied, der sich wie seine Eltern als säkular definiert.
Ähnlich sieht es der Maschinenschlosser Jair Felix, der in Schwaben lebt. Der Rentner ist im Norden Israels aufgewachsen, wo seine Eltern, traditionelle Juden aus Polen und Weißrussland, ein Lebensmittelgeschäft betrieben. »An Rosch Haschana hatten wir natürlich geschlossen. Zu Hause gab es Gefilte Fisch, es war aber nicht so feierlich wie an Pessach. Mein Vater war in der Synagoge, und wir Kinder haben im Wäldchen nebenan gespielt«, erinnert sich Felix, der noch Ende der 30er-Jahre als Kind mit seinen Eltern und Geschwistern nach Eretz Israel einwandern konnte und wie viele Israelis seiner Generation nach der Schoa mit der Tradition gebrochen hat. Später zog er aus beruflichen Gründen nach Deutschland um.
Enkelkinder »An jüdischen Feiertagen habe ich mir nie Urlaub genommen«, sagt Felix. Auch in die Synagoge zog es ihn nicht. Allerdings freut sich der Rentner jetzt sehr darüber, dass seine Tochter an den Feiertagen freibekommt und sich mit den beiden Enkelkindern zu einem klassischen Rosch-Haschana-Besuch angekündigt hat. An Erew Rosch Haschana soll es ein festliches Abendessen geben, bei dem Äpfel und Honig nicht fehlen werden.
In ganz anderen jüdischen Kreisen bewegt sich die Amerikanerin Susan Borofsky aus Düsseldorf. Die Lehrerin unterrichtet an der Internationalen Schule. Wohl überlegt beginnt sie ihr Sabbatical, eine einjährige Auszeit, noch vor Rosch Haschana. Ansonsten, sagt sie, hätte sie an den Feiertagen eine Freistellung beantragt. Als sie das erste Mal vor einigen Jahren darum bat, war man an der Schule einigermaßen erstaunt, sagt sie. Dass es Freistellungen für christliche Feiertage gibt, kannten sie im Büro. Von den gesetzlich garantierten Freistellungen für jüdische Feiertage wissen sie nun dank Susan Borofsky inzwischen auch.
Tradition »Niemals würde ich an Rosch Haschana arbeiten«, betont die Amerikanerin. Kurz vor Rosch Haschana wollte die 57-Jährige nach Bloomfield in New Jersey aufbrechen. Dort hat sie bis vor sieben Jahren gelebt. Im Alter von 50 kam sie ihrem Mann zuliebe nach Deutschland. Sie spricht perfekt Deutsch. Dennoch meldet sie sich am Telefon mit einem einladenden »How are you?« – es könnten ja Freunde aus den USA sein, um noch etwas für die Feiertage abzusprechen.
Rosch Haschana will sie dieses Mal mit ihrer alten Gemeinde in Bloomfield verbringen. Am Freitag gibt es ein Essen mit dem Rabbiner. Für Susan Borofsky ist es selbstverständlich, an den Tagen des Neujahrsfestes in die Synagoge zu gehen. Anschließend will sie mit Freundinnen essen. Zu Jom Kippur reist die Amerikanerin dann wieder zurück nach Europa. Das Versöhnungsfest will sie in Deutschland feiern.
orthodox Miroslaw Meir Lisserman aus Frankfurt am Main glaubt fest daran, dass alle, die das wirklich wollen, an Rosch Haschana auch freibekommen. Für ihn wird während dieses Festes entschieden, was im kommenden Jahr passiert. Deshalb denkt der Wirtschaftsinformatiker voller Ehrfurcht an die Tage des Neujahrfestes. Wie immer hat Lisserman sich freigenommen – jüdische Feiertage sind ihm heilig. Er will Rosch Haschana mit seiner Frau Polina und den beiden Kindern Naomi und Joel ausgiebig zelebrieren.
Nach einer Zeit der Arbeitslosigkeit hat Lisserman nun endlich einen Job – über eine Freistellung für die jüdischen Feiertage hätte er dennoch nicht diskutieren wollen. Zum Glück war das auch nicht nötig – es klappte ohne großes Gerede. Die Familie wird zu den Feiertagen nicht allein sein, denn Miroslaw Lisserman gehört zur Organisation »Jewish Experience«. Gemeinsam mit anderen gläubigen Juden zwischen 17 und 40 Jahren hat er sich zu einem viertägigen Seminar angemeldet und freut sich auf Besinnung und Austausch mit Gleichgesinnten.
Auch Stanislav Kofmann, der als Berater in einem Steuerbüro angestellt ist, hat sich freigenommen – als orthodoxer Jude könne er an den Feiertagen nicht arbeiten, sagte er zur Begründung. Sein Urlaubsantrag wurde angenommen. Dennoch hat Kofmann Sorge, dass an den Feiertagen irgendetwas schiefgehen könnte. Er weiß nicht, was es sein soll, es ist nur so ein Gefühl. Dabei sind die Tickets längst gebucht: Zusammen mit seiner Frau Sabina und der fünfjährigen Tochter Jael will Kofmann nach Israel fliegen und dort Rosch Haschana feiern – am liebsten in Jerusalem. Dort hat er einige Bekannte. Der Steuerberater will die Feiertage in der Synagoge verbringen. »Wie sich das gehört«, sagt er. »Dreimal am Tag beten.«
urlaub Anders als Lisserman und Kofmann ist Anna Filippowa, die aus der Ukraine stammt und heute in Erlangen lebt, nicht besonders religiös. Dennoch will die 62-Jährige am Mittwochabend, dem 4. September, in die Synagoge gehen, ehe sie am Donnerstag in den Urlaub fliegt. Ganz ohne Gottesdienst will die Klavierlehrerin die Feiertage nicht verbringen, trotz der atheistisch geprägten Kindheit und Jugend. Manchmal spielt sie auch mit ihren Schülerinnen in der Synagoge; für Mitte Oktober ist dort ein Konzert geplant. Anna Filippowa macht sich jetzt schon darüber viele Gedanken. Sie möchte, dass dieser Auftritt im Gotteshaus besonders gut wird.
Jetzt aber reist sie erst einmal in die Türkei. Sie will die Feiertage nutzen, um sich am Strand zu erholen und mit Blick aufs Meer den Kopf freizubekommen. Als Freiberuflerin kann sie sich die Zeit einteilen. Und da ist es wohl kein Zufall, dass sie sich selbst ausgerechnet an den Hohen Feiertagen freigibt.