Auf diese Provokation wollte ich nicht reagieren: Kürzlich waren meine Frau Anna und ich an einer Berliner Schule, um in einem Workshop Jugendliche mithilfe von selbst gemalten biografischen Comics ans Bewusstsein für ihre eigene Identität heranzuführen. Da stand am zweiten Tag ein Junge mit Migrationshintergrund auf und machte den Hitlergruß. Die Lehrer waren irritiert und überlegten, wie sie reagieren sollten. Doch ich fand – und das finde ich noch immer –, dass man Ruhe bewahren sollte.
fragen Am nächsten Tag merkte ich, dass der Junge etwas neugieriger wurde und wissen wollte, was wir da eigentlich mit seiner Klasse vorhaben. Bis dahin hatte er sich geweigert, mitzumachen. Doch nun schien er langsam aufzutauen. Als wir in einer Pause zusammen Armdrücken spielten, wusste ich, dass ich nun mit ihm darüber reden konnte, was mich und viele andere Menschen bewegt: unsere Identität.
Die Schüler erfahren meist rasch, dass ich aus Israel komme und Jude bin. Für viele bin ich der erste Jude, den sie überhaupt kennenlernen. Und dann merken sie auch, dass sie bei mir nicht nur arbeiten, sondern auch Fußball spielen und Spaß haben können.
Seit sieben Jahren geben meine Frau und ich einwöchige Workshops in Schulen, überwiegend in Berlin-Neukölln. Die meisten der Schüler haben einen Migrationshintergrund. Im Laufe der Woche beginnen die Jugendlichen, sich die klassischen Fragen der Ich-Bewusstwerdung zu stellen: Wer bin ich? Woher komme ich? Wie kommt es, dass meine Familie ausgerechnet hier lebt? Lehrer haben im Schulalltag oft keine Zeit, sich diesen Fragen ausführlicher zu widmen.
erkenntnisse Bevor man seine Geschichte aufmalt, muss man sie natürlich kennen. Wir regen die Schüler an, ihre Eltern zu befragen, was sie nach Deutschland verschlagen hat und woher ihr Name stammt.
Viele Eltern erzählen gar nichts im Alltag. Das hole ich zumindest geschichtlich nach und berichte beispielsweise, dass die Menschen aus der Türkei gekommen sind, um hier zu arbeiten. Ich bitte die Kids zuerst, Fotos mitzubringen. Viele stellen schon dann fest, dass es Gemeinsamkeiten gibt, etwa, dass ihre Familien aus derselben Gegend stammen oder dass bei vielen sich zuerst der Vater in Deutschland etablierte, bevor er die Mutter, eine Frau aus der alten Heimat, heiratete. Über die Kenntnis ihrer selbst und ihrer Freunde kommen die Schüler einander näher.
Der erste Tag ist der härteste – die Schüler sind entweder desinteressiert, aufgeregt oder wollen uns beeindrucken. Meist behaupten sie anfangs, dass es nichts zu erzählen gibt. Am zweiten und dritten Tag aber legen sie dann los und wirken erleichtert – als ob sie sich endlich einmal alles von der Seele reden können. Als wir 2008 mit den Workshops anfingen, dachte ich, wenn wir zwei oder drei Kinder erreichen, haben wir schon eine Menge geschafft. Doch meist ist es sogar so, dass wir fast die ganze Klasse erreichen.
schmerz Wir arbeiten mit zeichnerischen Übungen und Einzelgesprächen. Viele der Kinder und Jugendlichen haben sich noch nie selbst gemalt – das ist auch wirklich nicht einfach. Oft halte ich ihnen einen Handspiegel hin. Zusammen mit mir betrachtet der Schüler sein Gesicht im Spiegel. Und wenn dann ein schönes Porträt dabei herauskommt, ist er stolz. Ich finde, dass es etwas mit einem macht, wenn man sich selbst zeichnet und wiedererkennt.
Die Beschäftigung mit sich selbst ist für viele Kinder schmerzhaft. Manche haben einen Elternteil verloren oder erleben häusliche Gewalt – da kommt doch oft Einsamkeit zum Ausdruck. Am letzten Tag gibt es eine Präsentation, bei der die Zeichnungen der Schüler ausgestellt werden. Das Ergebnis eines Workshops ist beispielsweise Das Buch vom Böhmischen Dorf, ein Stadtteilführer und Mitmachbuch mit Schülerzeichnungen.
Unsere Idee, solche Workshops anzubieten, entstand durch ein Schulprojekt mit kurzen essayistischen Dokumentarfilmen. In ihrer Graphic Novel Weltreiche erblühten und fielen: 650 Jahre Geschichte Neuköllns hat meine Frau neben anderen Geschichten auch meine Familiengeschichte festgehalten. Die damalige Kulturamtsleiterin hat daraufhin die Schülerseminare auf der Grundlage des Geschichtscomics angeregt. Anfangs haben wir den Schulen unsere Projekte vorgestellt, inzwischen kommen die Lehrer auf uns zu.
Marokko Vielleicht ist es meine eigene komplizierte Familiengeschichte, die mich veranlasst, mir so gerne die Geschichten der Schüler anzuhören. Meine Eltern stammen aus Fez in Marokko. Mein Vater ist mittlerweile verstorben. Meine Mutter stammt aus einer wohlsituierten Familie und hat ein Internat in Paris besucht. Heute wissen wir gar nicht, wie alt sie ist, sodass wir ihr Alter schätzen müssen.
In den 50er-Jahren verließen fast 280.000 Juden Marokko. 1952 wollten auch meine Eltern nach Israel emigrieren. Zwei Kinder hatten sie bereits, das dritte war unterwegs, als ihnen in Marokko alles weggenommen wurde und sie aus dem Land vertrieben wurden.
Mein Vater ist darüber nie hinweggekommen. Zumal sie damals in Maalot, etwa zehn Kilometer vor der libanesischen Grenze, jahrelang in einem Zelt leben mussten.
israel Wir waren insgesamt neun Kinder. Von dem Schock des sozialen Abstiegs in Israel hat sich mein Vater nie erholt. Ich wuchs in unmittelbarer Nachbarschaft und Freundschaft zu einem Dorf christlicher Araber auf. Mein Vater arbeitete als Schächter. Seine Tätigkeit war auch bei den Arabern sehr begehrt. Als Junge habe ich ihn oft begleitet.
Wie alle meine Geschwister besuchte ich die orthodoxe Schule des Ortes. Für meinen Geschmack hatten wir viel zu viel Religion und viel zu wenig anderen Unterricht. Ich rebellierte. Daher kam ich mit zwölf in ein Internat in Nahalal.
Dort ging es ganz anders zu: Musik, Reiten, Tennis, Fechten und Volkstanz – alles wurde angeboten. Die Atmosphäre im Internat war sozialistisch und europäisch geprägt und machte mich neugierig aufs Leben.
deutschland Nach dem Militärdienst reiste ich nach Indien und ging anschließend nach Deutschland, wo ich meine erste Frau kennenlernte. Ich lernte die Sprache, holte das Abitur nach, schrieb mich an der Universität für das Fach Raumfahrttechnik ein, wurde Vater eines Sohnes und einer Tochter.
Um Geld zu verdienen, schlug ich mich mit Gelegenheitsjobs durch. Gegen Ende des Studiums lernte ich meine jetzige Frau, Anna, kennen. Seit 2003 arbeiten wir auch zusammen.
Neben künstlerischer Arbeit und unseren Projekten an den Schulen unterrichten wir Film- und Videopraxis an der Hochschule für Musik Hanns Eisler und bieten Seminare im Kino Arsenal an.
heimat Derzeit arbeiten wir an verschiedenen Aktionen zum Thema »Lage der Flüchtlinge in Europa«. Im Februar soll es dazu in der Friedrich-Ebert-Stiftung eine Ausstellung mit Zeichnungen von Schülern und Studenten geben. Außerdem machen wir einen Film über ein deutsch-israelisches Austauschprojekt für Architekturstudenten und Lehrlinge des Baugewerbes, bei dem in Berlin und Israel gemeinsam geplant und gebaut wird.
Und meine persönliche Geschichte? Meine Heimat ist nun hier in Neukölln, wo ich mit meiner Frau und unserer gemeinsamen achtjährigen Tochter lebe. Wir drei teilen eine Leidenschaft: Wir machen sehr gerne Musik. Meine Tochter spielt Geige, meine Frau singt, und ich spiele Flöte.
Ein Gegenstand jedoch erinnert mich täglich an meine eigene Geschichte: eine marokkanische Teekanne mit frischem Pfefferminztee.