Zwei Faktoren sind gewiss, wenn Michael Brenner, Inhaber des Lehrstuhls für Jüdische Geschichte und Kultur, und seine Jiddisch-Dozentin Evita Wiecki zum alljährlichen Scholem-Alejchem-Vortrag im Sommertrimester einladen: »a sheyner oylem un heyser veter«. Trotz tropischer Temperaturen kamen wieder viele Könner und Kenner, Freunde und Studierende der jiddischen Sprache zusammen.
Auf dem Programm stand Kalman Weiser mit der Frage: »Vu es gefint zikh die hoyptshtot fun yidishland?« Evita Wiecki scherzte, dass man meinen könnte, diese Hauptstadt läge womöglich in Toronto, weil von dort bereits der dritte Jiddisch-Spezialist eingeladen wurde.
ns-zeit Kalman, auf Jiddisch »Kalmen« ausgesprochen, erscheint in seinem Profil auf der Webseite der York University in Toronto als Keith Weiser. Vor 15 Jahren zog der 1973 in Brooklyn/New York geborene »meyven af der geshikte fun der yidisher kultur in Poyln« nach Toronto, wo er sich als Spezialist des Jiddischen derzeit mit der jiddischen Sprache und ihrer politischen Entwicklung während der NS-Zeit befasst. Jiddisch lernte er von seinem Vater und spricht es konsequent mit seinen fünf und sechs Jahre alten Töchtern.
Trotzdem gibt Weiser sich keiner Illusion hin. Mit elf Millionen Menschen, die vor dem Zweiten Weltkrieg Jiddisch sprachen oder verstanden, war es eine globale Sprache. Jiddischland, ein Begriff der durch die Presse verbreitet wurde, umfasste etwas anderes als ein Land mit zusammenhängendem Territorium. Es konnte sogar im PEN-Klub Mitglied sein. Heute vermutet Weiser rund 200.000 Jiddisch sprechende Menschen weltweit; insgesamt eine halbe Million dürfte Jiddisch gut verstehen.
Höchst »lebedik« nahm Kalman Weiser seine Zuhörer mit auf Spurensuche. Die Verwerfungen des untergehenden Zarenreichs und des Ersten Weltkriegs beeinflussten das Leben in Dörfern, Schtetln und Städten tiefgreifend. Der jiddische Philologe, Anwalt und Politiker Noah Prylucki meinte sogar, »die anarchistische Republik von Jiddisch« brauche eine Hauptstadt und Ministerien.
wilner-mythos Und damit landet man schnell beim »Wilner-Mythos«, der »Wiege der modernen jiddischen und hebräischen Kultur«, nach 1922 eigentlich eine arme Stadt an der Peripherie der neuen polnischen Republik. Das »litvische«, misnagdische, rationale, asketische Wilna war das Zentrum jiddischistischer Tätigkeit, während das »poylische«, einerseits chassidische, andererseits polonisiert-säkulare Warschau zur Metropole moderner jiddischer Kultur mit über 300.000 jüdischen Einwohnern avancierte.
Neben dieser freundschaftlichen Rivalität sei auch nicht der Wettbewerb der jiddischen Presse in Berlin, Kiew und New York zu vergessen. Für die diesjährigen Sponsoren David Stopnitzer und seine Frau Sara, geborene Lehrer, war dieser Vortrag eine »nu-e«, ein richtiges Vergnügen. Beide lernten in ihren Elternhäusern übrigens eine weitere Variante des Jiddischen, wie sie einst in Galizien hejmisch war.