Angekommen

»Neuer Ort, neues Leben, neue Chancen«

Alona Kolovalschuk, Hamburg
Alona Kolovalschuk hat Sehnsucht – Sehnsucht nach ihrer Heimat, nach Odessa, das die russische Armee gerade wieder mit Bomben überzogen hat. Ihre Eltern leben noch dort. »Ich vermisse sie sehr, ich vermisse meine wunderschöne Heimatstadt, den Hafen und das Meer«, sagt die studierte Schauspielerin, und sie hat Tränen in ihren großen braunen Augen. Zum Zeitpunkt, als Wladimir Putin die Ukraine überfiel, wohnte sie gerade in Kiew. »In der Nacht des 24. Februar rief mich mein Bruder aus Odessa an und sagte mir, dass Raketen eingeschlagen sind. Ich dachte, nur Odessa sei bombardiert worden, doch dann explodierten auch in Kiew Bomben.« Zwei Wochen noch habe sie es in Kiew ausgehalten, dann sei sie nach Lwiw geflüchtet und habe dort ehrenamtlich gearbeitet. »Doch die Angst um meine Eltern hat mich nach Odessa getrieben«, sagt die 27-Jährige. Die Eltern aber rieten ihr dringend, ihre Freunde in Hamburg anzurufen. Diese baten sie, umgehend die Ukraine zu verlassen und nach Hamburg zu kommen. »Es war schwierig, ich hatte kein Geld, keine Arbeit und sprach kaum Deutsch, aber ich wollte leben!«, erinnert sich Alona Kolovalschuk. Die Angst um ihre Eltern fuhr die ganze Zeit mit ihr auf ihrer Flucht vor den russischen Überfällen. »Aber sie freuen sich, dass ich hier in Sicherheit bin«, sagt Alona. Mittlerweile hat sie eine kleine Wohnung gefunden, wird finanziell von der Stadt unterstützt, besucht einen Deutschkurs, und ihre Freunde verhalfen ihr bereits zu ersten Engagements an freien Theatern in Hamburg, beispielsweise im jüdischen Lichthof-Theater und in der Kulturfabrik Kampnagel. »Ich baue mir jetzt hier eine Schauspiel-Karriere auf, ich will hier bleiben, obwohl ich innerlich immer noch in Odessa bin«, sagt Alona voller Hoffnung, aber auch mit einem traurigen Ton in ihrer Stimme.

Eleonora Tuzovska, Stuttgart
»Am 3. März 2022 kamen wir aus dem Krieg von Odessa nach Deutschland. Zuerst wohnten wir bei entfernten Verwandten, zwei unserer drei Söhne – neun und elf Jahre – und ich. Aber da konnten wir nicht so lange bleiben. Also kamen wir nach Stuttgart. Und wohnen nun in einem Wohnheim. Die Verbindung nach Süddeutschland hatten wir schon von der Ukraine aus geknüpft. Dort hatten wir Kontakt zu einer Chabad-Gemeinde. Nelly Pushkin, die Frau von Rabbiner Pushkin, hatte uns telefonisch mit Informationen versorgt, und so hatten wir sofort Kontakt zur Israelitischen Religionsgemeinschaft Württembergs (IRGW). Jetzt, wo wir hier miteinander sprechen, ist der jüngste Sohn in der Bibliothek und nimmt an einem Deutschkurs teil. Wenn die Ferien zu Ende sind, geht er wieder in die Jüdische Grundschule. Der Elfjährige hat auch Ferien. Er treibt viel Sport. Und dann haben wir noch einen ältesten Sohn. Er ist 20 und lebt in Israel. In der Gemeinde sind wir gut aufgenommen worden. Nelly Pushkin hat Schabbatessen organisiert, die Kinder haben zusammen gespielt. Das hilft. Was ich über den Krieg in der Ukraine denke? Er ist auf die Vernichtung der ukrainischen Nation ausgerichtet. Mein Mann ist dort geblieben. Er kämpft in den Spezialeinheiten der Seestreitkräfte. Unsere Söhne vermissen ihren Vater sehr. Doch sie sind auch stolz auf ihn. Wenn irgend möglich, ruft er an. Und ich habe eine spezielle App auf dem Handy mit allen Angriffssignalen auf Odessa. Natürlich schlafe ich schlecht. Aber was soll ich tun? Bei den letzten Angriffen wurde außer Wohngebäuden die Verklärungskirche getroffen. Die gesamte Altstadt von Odessa gehört zum Weltkulturerbe. Die Ukraine muss den Krieg gewinnen. Sonst gibt es keinen Ausweg. Mit Russland kann man heutzutage nicht verhandeln. Mein Mann, der aktuell in Donezk statio­niert ist, hat Sorge, dass die Lieferung von Munition aus Deutschland weniger wird. Er wird erst zu uns kommen, wenn der Krieg gewonnen ist.«

Netaly Arieli, Stuttgart
»Wir sind im April 2022 aus Kiew nach Stuttgart gekommen. Wir, das sind meine Eltern, meine beiden Kinder – ein Junge (16) und ein Mädchen (14) –, mein Mann, ich und zwei Hunde. Es gibt noch einen älteren Sohn, der ist in Israel und nimmt an einem Programm für internationale junge Leute teil. Im Seniorenhaus der Gemeinde haben wir eine Zweizimmerwohnung bekommen. Es ist sehr eng, aber wir sind beieinander. Mein Mann war erst als Volunteer und Trainer im Krieg. Aber er ist krank. Er ist Israeli. Der älteste Sohn wird in Israel bleiben und studieren. Die Eltern sind Rentner und haben einen abgesicherten, wenn auch sehr bescheidenen Lebensabend. Die Tochter lernt im Königin-Olga-Stift. Ich habe in der Ukraine Hebräisch in der jüdischen Gemeinde unterrichtet. Wir leben orthodox. Jetzt nehme ich in der IRGW an einem Programm teil, bei dem jüdische Hochzeiten gestiftet werden. Meine Eltern waren 40 Jahre verheiratet und sind nun unter die Chuppa getreten. Ein anderes, älteres Ehepaar ebenso. Was mich in Deutschland beeindruckt, ist die Tatsache, dass die jüdische Gemeinde von der Polizei geschützt wird. In der Stadtplanung nimmt man Rücksicht auf die Bedürfnisse der Bürger, es gibt für alle eine mehr oder minder abgesicherte soziale Absicherung und obendrein eine Vielfalt des Lebens, wozu ich auch die Kultur zähle. Was ich über den Krieg denke? Was soll ein normaler Mensch über einen Krieg im 21. Jahrhundert in Europa denken? Es ist eine Katastrophe. So viele Menschen sind schon tot, und es gibt keinen Grund, jemanden zu töten. Es ergibt überhaupt keinen Sinn. Wir haben unseren Umzug nach Deutschland nicht geplant. Und wir haben in der Ukraine auch keine Verwandten mehr. Jetzt sehen wir die Perspektive unserer Familie hier. Wir sagen: neuer Ort, neues Leben, neue Chancen.«

Liudmyla Savelieva-Milman, Dortmund
Im Spätsommer vergangenen Jahres kam Liudmyla Savelieva-Milman gemeinsam mit ihrem Mann und ihren zwei Kindern nach Dortmund. Sie kannten bereits Ukrainer, die hier lebten. Die Ukraine verließ die Familie sofort nach dem Angriff Russlands im Februar 2022: »Wir flohen nach Moldawien und hofften, schnell wieder nach Odessa zurückkehren zu können.« Die Lehrerin hält gemeinsam mit anderen Ukrainern engen Kontakt zur Heimat: »Wir sammeln Geld und leisten Hilfe für die Bevölkerung und unsere Armee.« Der Krieg habe für sie jedoch nicht 2022, sondern schon 2014 mit der Eroberung der Krim durch Russland begonnen. Viele Freunde und Verwandte seien noch im Land. Erst vor Kurzem sei der Sohn einer befreundeten Familie gefallen. Seine Eltern haben seine Asche wie gewünscht vom höchsten Berg der Ukraine verstreut. Mit der Gemeinde in Dortmund ist Savelieva-Milman eng verbunden. »Wir sind hier herzlich aufgenommen worden. Obwohl der Krieg seit weit über einem Jahr anhält, wird die Gemeinde nicht müde, den Geflüchteten zu helfen, sich um sie zu kümmern und sie bei allem zu unterstützen.« Sie habe aber auch vom Staat viel Hilfe erhalten. Die Kritik, dass Deutschland die Ukraine nicht genug unterstütze, teilt sie nicht: »Deutschland unterstützt die Ukraine militärisch und wirtschaftlich.« Ob die Familie wieder in die Ukraine zurückkehren wird, ist offen. Die Sicherheit und das Wohlbefinden der Kinder hat für sie oberste Priorität: »Unsere Tochter hat schon auf dem Gymnasium in der Ukraine Deutsch gelernt. Wenn unsere Kinder in Deutschland bleiben wollen, werden wir ihrem Wunsch folgen. Möchten sie nach dem Krieg zurück in die Ukraine, werden wir auch das tun.«

Lada Spektor, Bochum
Gemeinsam mit ihrem Mann und ihrer Mutter kam Lada Spektor am 19. März nach Deutschland. Sie waren nach Beginn des Krieges aus ihrer Heimatstadt Kiew erst nach Polen und dann nach Deutschland geflohen. »Dass es einen Krieg geben würde, konnten wir uns alle nicht vorstellen. Wir haben in einem friedlichen und schönen Land gelebt. Alles war gut«, sagt Spektor. In Polen angekommen, hatten sie noch Hoffnung, dass der Krieg nach ein paar Tagen vorbei sein würde und sie nach Kiew zurückkehren könnten. Doch es kam anders. Also zogen sie weiter. Nach Bochum sind die drei gekommen, weil sie hier Freunde hatten. In der Stadt leben mittlerweile viele Ukrainer, und die jüdische Gemeinde ist groß und aktiv. Die beiden Kinder haben die Ukraine auch verlassen und leben heute in Israel. »Wir haben noch viele Freunde und Verwandte in der Ukraine. Was sie erleben müssen, ist fürchterlich. Alles wird zerstört.« Die grauenhaften Nachrichten aus ihrer Heimat, die Zerstörungen durch die russische Armee, all das belastet Lada Spektor sehr und bestimmt ihren Alltag. Alle drei sind mittlerweile anerkannte Kontingentflüchtlinge und werden in Deutschland bleiben. Spektor ist nicht nur der Gemeinde in Bochum dankbar, sondern sie ist auch beeindruckt von der Hilfe, die sie in Deutschland bekam: »Wir hatten ja nichts und bekamen Kleidung und alles, was wir für unseren Haushalt brauchen.« Nun lernt die kleine Familie Deutsch, was nicht einfach ist. »Ich verstehe schon viel, habe aber noch Probleme damit, Deutsch zu sprechen.«

Maryna Yakover und Sergej Popuchiev, Nürnberg
Für uns ist es eine sehr schwere Zeit gewesen und ist es heute noch, genauso wie damals. Die Lage hat sich nur verschlimmert und es ist kein Ausweg in Sicht. Alle Menschen in der Ukraine hat es schwer getroffen, es ist die Hölle und wir beten für diejenigen, die an der Front sind und diejenigen, die ihr Land nicht verlassen haben. Wir beten für alte Menschen, wir beten für Kinder. In Nürnberg fühlen wir uns sehr wohl, wir haben alles bekommen, was nur möglich war, jede Hilfe. Die IKGN hat uns bei allem geholfen, wir haben hier einen Anschuss gefunden und sind glücklich darüber. Die Stadt gefällt uns sehr und wir würden hier auch ggf. gerne bleiben. Wir vermissen unsere Arbeitsplätze, unsere Freunde, unsere Lebensweise, unsere »Freiheit«. Wir waren gut in das Stadtleben etabliert, ich hatte eine leitende Position, mein Mann war selbstständig, das ist natürlich eine ganz andere Lebensart und Lebensqualität. Jetzt sind wir beide auf das Bürgergeld angewiesen. Generell versuchen wir, das Beste aus der Situation zu machen – für unsere Kinder! Natürlich vermissen wir unsere Heimat – Odessa. Es tut weh, mitansehen zu müssen, dass unsere Heimat immer weiter attackiert wird, aber wir glauben an das Gute, wir hoffen, irgendwann wieder nach Ukraine gehen zu können, denn Heimat bleibt immer Heimat. Wir würden uns wünschen, dass der Krieg endlich aufhört. Und danach: Wiederaufbau, so schnell wie möglich! Und für uns hoffen wir, dass wir unser gewohntes Leben wieder bekommen, in unserer Heimat, mit unseren Verwandten, Freunden etc.

Texte und Fotos von Brigitte Jähnigen, Stefan Laurin, Heike Linde-Lembke und Stefan W. Römmelt

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