Heidelberg zeigt sich an diesem Montag von seiner schönsten Seite: Allein auf dem Weg von der Theodor-Heuss-Brücke zum Philosophenweg lassen sich Dutzende postkartentaugliche Fotos von den grünen Hängen am Neckar schießen, am Schloss und in der Altstadt sowieso. Und das alles ab mittags sogar im Sonnenlicht – eine regelrechte Sensation nach langen Wochen, in denen der Regen auch im Südwesten kaum einmal klein beigab.
Vielleicht hilft auch dieser Rahmen den Teilnehmern ein klein wenig, das straffe Programm zu absolvieren, das die Organisatoren der »Tagung für Religionslehrkräfte« für dieses Frühjahr ausgetüftelt haben und das von der Anreise am Sonntagnachmittag bis zur Abreise am Dienstagmittag gut 22 Stunden Programm bereithält.
Schon der erste Tag ging bei der gemeinsamen Veranstaltung des Zentralrats der Juden in Deutschland, der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden (ZWST) und der gastgebenden Hochschule für Jüdische Studien spät zu Ende – nach einer Gruppendiskussion und einem Vortrag von Marina Chernivsky (Kompetenzzentrum für antisemitismuskritische Bildung und Forschung), die beide den 7. Oktober 2023 zum Thema hatten.
Unterrichtsinhalte sollten einen Bezug zum eigenen Leben herstellen.
Auch Professor Jan Woppowa, der an der Uni Paderborn angehende Gymnasiallehrer ausbildet, hat am Sonntag zugehört. Am Tag darauf leitet er zwei Slots zur Religionsdidaktik, parallel zu Rainer Goltz, der bereits im Vorjahr zum Dozententeam gehörte. Woppowa hat lange selbst als Lehrer für Mathematik und katholische Religion gearbeitet – die Dichotomie zwischen Wissenschaft und Religion ist nicht nur bei ihm eines der Leitthemen der Tagung.
Wie auch die Erkenntnis, dass der Unterricht noch viel zu oft Lehrplänen folgt, die per se keinen Bezug zum Leben der Jugendlichen erkennen lassen – eine von vielen Herausforderungen für die Lehrkräfte. »In der Schule wird viel Zeit damit vergeudet, Stoff abzuarbeiten, der gemacht werden muss, aber keine Relevanz für Schüler hat«, sagt Woppowa. »Erst wenn es gelingt, diese herzustellen, kann man von religiöser Bildung sprechen.«
Fünfstufiges Modell der »Elementarisierung«
Wie sich das bewerkstelligen lässt, wird in der Folgezeit lebhaft anhand eines fünfstufigen Modells der »Elementarisierung« diskutiert, das Woppowa als roten Faden der Veranstaltung erläutert. Einigkeit besteht darin, dass die Schüler dieser Tage oft angeleitet werden müssen, den Bezug zu ihrem eigenen Leben herzustellen. Es gebe da eine gewisse Tendenz, »die Wahrheit auf dem Silbertablett« serviert zu bekommen, wie es eine Teilnehmerin ausdrückt: »Was denn nun? A oder B?«, werde man dann gefragt. Doch nur bei Douglas Adamsʼ Per Anhalter durch die Galaxis lassen sich »ultimative Fragen des Lebens, des Universums und des ganzen Restes« so einfach beantworten. Im echten Leben taugen hier weder Adamsʼ »42« noch A oder B.
Wie es überhaupt, wenn es existenziell wird, so eine Sache ist mit den unhinterfragbaren Wahrheiten. Die Tora, sagt ein Kollege aus Baden-Württemberg, sei eben kein Geschichtsbuch, das reproduzierbare Fakten referiert. Beispiel: Bereschit. Beide Teile widersprechen sich fundamental, das hat eine Teilnehmerin schon mit 13 Jahren erkannt. Und doch enthält die Tora eine Wahrheit, die sich auch noch 2024 vermitteln lasse.
Vorausgesetzt, die Kinder begreifen die Texte (auch) als Symbole. »Wenn du einem Tier einen Namen gibst, kannst du es dann noch essen?«, fragt eine Kollegin die Kinder – und setzt damit eine Diskussion in Gang. Auch ein viel diskutierter Neubau der Autobahn 49 in Hessen, den Nurith Schönfeld aus Frankfurt anführt, wirft existenzielle Fragen auf – für die Schüler. Und für die Bäume, die dem Asphalt weichen müssen.
Nach dem Mittagessen schlägt dann die Doppel-Stunde von Zeev Slepoy (Religionsschule Jeschurun Frankfurt/Main). Die Leitfrage »Wer hat Angst vor ChatGPT?« wird er am Ende mit einem »Ich« beantworten. Das überrascht ein wenig, schließlich hatte man in den eineinhalb Stunden zuvor den Eindruck, dass ihn die Chancen der Künstlichen Intelligenz etwas mehr faszinieren als ihre Risiken. Ganz sicher aber hält er es für vergebliche Liebesmüh, eine Technologie verbieten zu wollen, die längst selbstverständlicher Bestandteil im Alltag der Schüler ist.
Genau das täten aber rund die Hälfte der Schulen, wie eine Umfrage unter seinen eigenen Schülern ergeben habe. Und das, sagt Slepoy, erinnere ihn an die Maschinenstürmer im 19. Jahrhundert, die den (zwischenzeitlichen) Siegeszug der Webstühle auch nicht so recht verhindern konnten. Überhaupt bleibe die Autonomie des Menschen, seine Kreativität, vom technologischen Fortschritt unberührt, meint er – und blickt in nickende Gesichter, aber auch auf manch gerunzelte Stirn.
»Die KI ist letztlich auch nur ein Werkzeug wie der Bleistift, der Taschenrechner oder der Computer«
»Die KI ist letztlich auch nur ein Werkzeug wie der Bleistift, der Taschenrechner oder der Computer.« Es komme also darauf an, was man mit dem Werkzeug anstelle. Darauf, welche Fragen, welche Recherche-Aufträge man ihm gebe. Slepoy hält jedenfalls nicht nur die klassische Hausarbeit für obsolet. Es könne schließlich niemand überprüfen, was im stillen Kämmerlein selbst recherchiert und gedacht wurde – und was in Sekundenschnelle »die KI« übernommen habe. Mündliche Prüfungen, meint nicht nur er, seien künftig das bessere Mittel, um herauszufinden, was die Schüler wirklich begriffen haben. Doch damit nicht genug.
Slepoy wirft allerdings auch die Frage in den Raum, ob das Verfassen von Texten als solches noch Lehrinhalt sein könne, wenn sich doch binnen Sekunden ganze Abhandlungen auf die Bildschirme zaubern ließen. Und das in gut lesbarer Form: »Texte produzieren, das kann sie gut.« Slepoy, der ein quirliger, mitreißend-flinker Referent ist, erntet nun Widerspruch. Und zwar heftigen.
Sein »Fatalismus« der neuen Technologie gegenüber empört eine Teilnehmerin, die eine »Geringschätzung der Sprache« ausgemacht hat, die sie für »unjüdisch« hält. Die Liebe zum Wort, die Fähigkeit, komplexe Gedanken in eine entsprechende Sprache zu kleiden, sei eine menschliche Kulturtechnik und mithin nichts, das ein Knopfdruck ersetzen könne, sekundiert ein Teilnehmer aus Bayern. Als Slepoy die KI kurz darauf in wenigen Sekunden eine zumindest passable Unterrichtseinheit über die Propheten entwerfen lässt, ist er dann nicht der Einzige, der die Eingangsfrage bejahen würde.
Ist der Verstand schnell genug, die KI zu beherrschen?
Beim anschließenden Pausen-Kaffee fällt das Wort »beängstigend« jedenfalls auffallend oft. Die Frage, ob der menschliche Verstand schnell genug ist, um eine rasante Technologie zu beherrschen, oder ob es nicht bald umgekehrt sein wird, schwebt im Raum. Sie treibt auch den Referenten um. »Was ich heute über den künstlichen Intellekt sage, wird in einem Jahr mit sehr großer Wahrscheinlichkeit nicht mehr aktuell sein.«
Noch im vergangenen Jahr war die Veranstaltung für Religions- und für Hebräischlehrer angeboten worden, das führte zu etwas zu gut besuchten Veranstaltungen. Um die auch in diesem Jahr wieder hohe Nachfrage aus beiden Gruppen befriedigen zu können und dennoch gute Arbeitsbedingungen zu gewährleisten, findet die Veranstaltung für die Hebräischlehrer in diesem Jahr im Juni statt.