Porträt der Woche

Neue Saiten

Lydia Horn war jahrelang Orchestergeigerin. Jetzt ist sie Rentnerin und spielt Bratsche

von Canan Topçu  03.07.2012 16:40 Uhr

Vor der Alten Oper in Frankfurt am Main: Lydia Horn Foto: Judith König

Lydia Horn war jahrelang Orchestergeigerin. Jetzt ist sie Rentnerin und spielt Bratsche

von Canan Topçu  03.07.2012 16:40 Uhr

Seit ich in Rente bin, fühle ich mich frei. Bis Oktober war ich viele Jahre lang Mitglied der Philharmonie in Baden-Baden. Meine Tage waren voller Proben, und an den Abenden gab es Auftritte. Nun bin ich viel flexibler, aber Musik spielt immer noch eine große Rolle in meinem Leben. Ich übe vormittags ein paar Stunden, sonntags kommen zwei Schülerinnen zu mir. Ab und zu gebe ich Solo-Konzerte und spiele auch in einem Quartett. Im Orchester war ich Geigerin, aber weil ich mein ganzes Leben lang die tiefen Töne sehr geliebt habe, spiele ich jetzt Bratsche. Dieses Instrument ist wichtig für meine Seele.

Ich genieße es, Rentnerin zu sein und keine regelmäßigen Termine mehr zu haben. Nun kann ich frei entscheiden, was ich wann machen möchte. Aber ich muss mich noch daran gewöhnen. Langweilig wird es mir nicht. Im Gegenteil: Der Tag ist viel zu kurz. Ich schaffe nicht alles, was ich mir vornehme und so gerne machen möchte.

Fitness Mein Tag beginnt meist gegen acht Uhr. Vor dem Frühstück turne ich und höre dabei Radio. Zweimal die Woche gehe ich ins Thermalbad und schwimme. Ich möchte fit bleiben, damit ich all die Dinge machen kann, die ich mir vorgenommen habe. Ich will im Leben noch so manches schaffen. Hoffentlich lässt mich meine physische Kraft nicht im Stich. Jetzt, als Rentnerin, leiste ich mir mittags auch einen kleinen Schlaf. Das tut gut! Wenn ich wieder aufstehe, dann ist das wie ein neuer Tag.

Noch wohne ich in Baden-Baden, werde aber im Herbst, spätestens im November, nach Frankfurt umziehen. Dort lebt mein Sohn Roland mit seiner Familie. Er ist auch Musiker, Cellist im Opernorchester, und seine Frau ist Erzieherin. Sie haben eine elfjährige Tochter und einen dreijährigen Sohn. In ihrer Nähe beziehe ich demnächst eine Wohnung.

Ich bin häufig in Frankfurt, gehe dort auch bummeln und einkaufen. In Baden-Baden tue ich das kaum, hier ist es für mich viel zu teuer, die Preise in den Geschäften orientieren sich an den reichen russischen Touristen, von denen die Stadt voll ist.

Enkel Mein Leben wird sich noch mehr ändern, wenn ich in Frankfurt lebe. Denn dann werde ich mich mehr um meine Enkelkinder kümmern können. Ich möchte all die Rituale wiederbeleben, die ich aus meiner Kindheit kenne. So wie meine Großmutter einst mit mir möchte ich mit meinen Enkelkindern den Schabbat begehen.

Meine Großeltern waren religiös, haben Fleischiges und Milchiges getrennt. Ich mache das nicht, ich würde mich als liberale Jüdin bezeichnen, mir liegt mehr an der Kultur und den Traditionen. Als ich noch berufstätig war, konnte ich aber auch diese nicht pflegen, denn freitags gab’s ja meistens Konzerte, da war kein Schabbat möglich.

Gemeinde Ich freue mich sehr auf das neue Leben in Frankfurt. Gern würde ich mich in der Gemeinde einbringen. Ich möchte ein Kinder- und Jugendorchester gründen. Ich habe dafür schon eine Annonce vorbereitet. Ich träume von einem Orchester mit elektrischen Geigen. Die Kinder lernen damit leichter, weil viel schneller schöne Töne herauskommen. Über diese Mogelei lassen sich die Kleinen für die Geige begeistern. Mir schwebt auch vor, ein kleines jiddisches Theater für Kinder zu gründen. Auf diese Weise könnten die Kleinen etwas über die Geschichte ihrer Groß- und Urgroßeltern erfahren.

Ich stamme aus Czernowitz. Wir gehörten dort zu den deutschsprachigen Juden. Zwar wurde ich 1946 in der Sowjetunion geboren, doch geprägt worden bin ich vom Charakter und der Kultur der österreichischen Monarchie. Ich erinnere mich sehr gut daran, wie fremd ich mich fühlte, als ich in die Schule kam, und welche Mühen mir das Russisch machte. Ich sprach bis zur Einschulung ja nur das k.u.k.-Deutsch. Glücklicherweise konnte ich mich schnell integrieren.

Als 18-Jährige bin ich zum Studieren nach Kazan gegangen, das liegt in Tatarstan. Dort habe ich meinen ersten Mann kennengelernt, er war Sänger und ein Kommilitone von mir, ein sehr intelligenter russischer junger Mann. Wir sind 1974 gemeinsam nach Czernowitz gezogen. Leider ist er früh gestorben, da war unser Sohn gerade mal ein Jahr alt.

ausreise Weil der Antisemitismus in der Westukraine ganz schlimm war, sind meine Eltern und ich mit meinem damals dreijährigen Sohn 1980 ausgereist. Von heute auf morgen bekamen wir – dank der Intervention eines Bekannten – die Ausreisegenehmigung, auf die wir jahrelang gewartet hatten. Innerhalb von 24 Stunden mussten wir das Land verlassen und hatten kaum Zeit, unsere Sachen zu packen. Mit zwei Koffern, zwei Geigen und einem kleinen Cello, das mein Sohn immer noch hat, machten wir uns auf den Weg nach Deutschland.

In Wien legten wir einen Zwischenstopp ein. Dort holte uns mein Cousin Eduard ab und brachte uns mit dem Auto nach Berlin. Dort lebte der Bruder meines Vaters mit seiner Familie. Damals wanderten nur vereinzelt jüdische Familien aus. Mein Glück war, dass ich keine Sprachprobleme hatte, ich konnte ja Deutsch. So habe ich in Berlin schnell eine Stelle bekommen – erst bei der Volkshochschule als Dozentin für Musik, später als Geigerin beim Deutschen Symphonie Orchester. Fünf Jahre später habe ich die Stelle in Baden-Baden bekommen und zog mit meiner Familie dorthin.

Betreuerin Hier habe ich Anfang der 90er-Jahre die jüdische Gemeinde mitaufgebaut, kenne daher viele. Ich kümmere mich um ältere Zuwanderer. Von einer Frau bin ich die gesetzliche Betreuerin. Sie ist 76 Jahre alt, lebt im Pflegeheim und ist sehr krank. Gerade die älteren Leute brauchen Hilfe – sei es, dass mal ein Brief zu übersetzen ist oder ein Arztbesuch ansteht.

Auch um meine Eltern habe ich mich bis zum Schluss gekümmert. Beide waren über 90 Jahre alt, als sie starben. Mein Vater war Bildhauer, ein anerkannter Künstler, der Skulpturen geschaffen hat. Einige sind in Israel, Berlin, Baden-Baden und auch an anderen Orten aufgestellt. Nach Frankfurt werde ich mit 80 seiner Skulpturen umziehen. Einige davon möchte ich spenden. Ich würde mich freuen, wenn die Chagall-Büste im Chagall-Saal der Frankfurter Oper seinen Platz fände. Jetzt, wo ich Zeit habe, schaffe ich es vielleicht, eine Ausstellung mit den Werken meines Vaters zu organisieren.

Ich bin ein sehr offener Mensch, habe aber leider nicht viele Freunde. Das hängt mit meiner Arbeit zusammen. Ich hatte kaum Zeit, Kontakte zu pflegen. Zwei gute Freundinnen habe ich, die eine lebt in Karlsruhe und die andere in Rastatt. Wir sehen uns leider nicht sehr oft.

Die Abende verbringe ich meist zu Hause. Ab und zu schaue ich fern – aber keine Filme. Ich interessiere mich vor allem für politische Sendungen, Diskussionen und Talkshows. Zum Abend hin mache ich meist einen langen Spaziergang, entweder im Wald oder in der schönen Lichtentaler Allee in Baden-Baden. Abends lese ich viel: politische Bücher, Künstlerbiografien und Bücher über Psychologie. Mein zweiter Traumberuf war immer Psychologin. Aber ich bin froh, Musikerin geworden zu sein. Musik hält jung!

Großen Kummer bereitet mir zurzeit, dass sich der Verkauf meines Hauses in Baden-Baden so lange hinzieht. Vor meinem Umzug nach Frankfurt würde ich das gerne hinter mich bringen.

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