Nieselregen hüllte den grauen Himmel über Halle ein. Die im Hof der Synagoge anwesenden Politiker, Gemeindemitglieder und Journalisten drängten sich unter ein Flechtdach. Ein Pavillon neben dem Türmahnmal bildete die Bühne. Natürlich warf der Krieg in Israel einen zusätzlichen Schatten auf diesen Tag. Viele bezogen in der Schweigeminute sicherlich dessen Opfer mit ein. Max Privorozki, Gemeindevorsitzender der Jüdischen Gemeinde in Halle und Überlebender des Attentats, ergriff um zwölf Uhr mittags das Wort, exakt zum Zeitpunkt des Anschlags.
Vier Jahre zuvor hatte ein Täter versucht, mit Gewalt in die Synagoge einzudringen. Er war getrieben von antisemitischen Motiven, glaubte sich in einem Rassenkrieg, angefacht vom »ZOG« (Zionist occupied government), einem nicht nur unter Neonazis verbreiteten verschwörungsmythischen Weltbild. An Jom Kippur 2019 wollte er möglichst viele Juden und Jüdinnen in der Synagoge von Halle ermorden. Als er an der verschlossenen Tür scheiterte, erschoss er zunächst die Passantin Jana Lang, dann Kevin Schwarze in einem Döner-Imbiss und verletzte weitere Menschen zum Teil schwer.
Die Tür hielt stand und ist doch selbst ein Zeichen der Zerstörung. Sie ist nun im Innenhof zum Denk- und Mahnmal geworden. Es konnte am 9. Oktober keinen besseren symbolischen Ort geben, um nicht nur an die Ereignisse zu erinnern, sondern dem Gedenken einen weiteren Baustein hinzuzufügen. Denn zu diesem Anlass wurde das Projekt Torarolle eröffnet. Spendenfinanziert soll die Gemeinde dadurch ihre dritte Rolle erhalten. Zugleich sollen die Opfer und Angehörigen des Massakers in Israel unterstützt werden.
Ministerpräsident Haseloff mahnt und warnt
Nach dem von Rabbiner Elischa Portnoy gesprochenen Gebet ermahnte der Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt, Reiner Haseloff (CDU), die Gesellschaft, »lauter zu werden« gegen den »weit verbreiteten Alltagsantisemitismus«. Haseloff erklärte, der Mörder von Halle sei kein Einzeltäter. Zu viele Menschen in Deutschland seien dem Antisemitismus ausgesetzt – dies dürfe man nicht hinnehmen. Und das alles nur zwei Meter von jener rettenden Tür entfernt. Man kann die Einschüsse im Holz erkennen, das nun von einer Eiche als Denkmal gehalten wird, deren Äste eine Hand darstellen. 52 silberne Blätter hinter der Tür symbolisieren die Überlebenden des Anschlags. Jeweils zwei Blätter davor erinnern an die Toten.
Zum Abschluss der Gedenkstunde stellte Rafi Heumann das Torarollen-Projekt vor und gab dann in der Synagoge das offizielle Startsignal. Mit einem Crowdfunding soll das Erstellen der heiligen Schrift finanziert werden, erklärte der Vertreter des deutschen Ablegers der Wohltätigkeitsorganisation Keren Hayesod der Jüdischen Allgemeinen.
Die Tora strahle Hoffnung aus, knüpfe das Band zu den Altvorderen und sei ebenfalls eine Botschaft des Kommenden. Heumann wies zugleich auf den symbolischen Gedenkwert hin. Denn jeder, unabhängig von der Religionszugehörigkeit, dürfe mitmachen. »Alle können sich beteiligen und für einen der 304.805 Buchstaben spenden. Damit kommt auch eine Wertschätzung der Vielfalt zum Ausdruck.«
Die Jüdische Gemeinde Halle sei auf die Organisation zugekommen. Als er erfahren habe, dass diese noch über keine dritte Tora – gewissermaßen die Mindestanzahl für eine Synagoge – verfügt, sei der Plan für das Crowdfunding entstanden, so Heumann. »Wir unterstützen besonders die kleinen Gemeinden«, erklärte er.
Die neue Torarolle soll per Crowdfunding finanziert werden.
Und das Projekt mit dem Gedenken an das Attentat zu verknüpfen, soll die Erinnerung wachhalten. Um ein Zeichen zu setzen, steht es unter dem Motto »Antisemitischer Terror trifft uns alle«. Keren Hayesod hat zusammen mit der Organisation »Christen an der Seite Israels« die Spendenkampagne initiiert. Aufgrund der aktuellen Massenmorde in Israel habe man entschieden, dass die Hälfte des eingeworbenen Geldes sowie ein eventueller Überschuss an die Opfer und Hinterbliebenen gehen sollen.
Das Setzen der ersten Buchstaben bezeugte Ministerpräsident Reiner Haseloff und erhielt dafür eine Urkunde. Auf ihn folgte der Vater des ermordeten Kevin Schwarze. Dann waren weitere Politiker an der Reihe sowie Gemeindemitglieder, die damals in der Synagoge um ihr Leben bangten.
Extra für diesen Festakt war der Schreiber Rachamim Hawai aus Israel angereist. Nachdem erste Worte gesetzt waren, rollte er die Tora ein. Am 9. November wird die Rolle noch einmal in Berlin beschrieben, um dann im Januar, so der Plan, in Halle der Jüdischen Gemeinde übergeben zu werden. Hawai weiß es wertzuschätzen, dass er für Halle eine ganz besondere Tora schreiben darf. »Ich fertige ja kein Ding wie einen Tisch oder Stuhl an, sondern eine heilige Schrift, die noch dazu symbolisch für ein Gedenken steht. Ich weiß, dass an die Ermordeten Kevin und Jana erinnert wird, und so knüpfe ich ein Band zu ihren Seelen.«