Als Schoa-Überlebende und Zeitzeugin besucht sie Schulen, redet mit Kindern und Jugendlichen und spricht bei Gedenktagen: Anita Lasker-Wallfisch, die als Cellistin im Mädchenorchester von Auschwitz die Schoa überlebte. So »vollkommen wahnsinnig« es ihr heute auch vorkommt, es habe ihr das Leben gerettet, betont die 94-Jährige gerne. »Ich habe überlebt, wozu eigentlich? Um Zeugnis abzulegen, dass es tatsächlich so war, wie es war.«
Nun werden ihre Antworten auch im Deutschen Technikmuseum in Berlin festgehalten – dank modernster Technik mithilfe eines interaktiven Zeitzeugnisses in dem Projekt »Dimensions in Testimony«. Dabei wird die Zeitzeugin in lebensgroßer Darstellung auf einem Monitor zu sehen sein. Im Februar lief die Testphase mit Schülern an, musste aber wegen der aktuellen Corona-Krisensituation ausgesetzt werden.
Um die Aufnahmen zu produzieren, musste sich Anita Lasker-Wallfisch vor etwa einem Jahr in ihrer Heimat London eine Woche lang für mehrere Stunden in ein sogenanntes Green-Screen-Studio begeben. Dabei wurde sie von Spezialkameras gefilmt.
DATENBANK Gleichzeitig wurden ihr 1000 Fragen gestellt. So entstehe eine Datenbank aus Antworten, erläutert der stellvertretende Direktor des Deutschen Technikmuseums, Joseph Hoppe, die durch die Schüler abgerufen werden können.
Mithilfe von »Natural-Language-Technologie« wandelt das System die gesprochenen Fragen in Suchbegriffe um, danach ordnet das System die Suchbegriffe jeweils derjenigen Antwort der Befragten zu, die am besten passt. Durch das Abspielen des dazugehörenden Videoclips soll der Eindruck einer Gesprächsrunde entstehen.
Für den Fragenkatalog hat die Stiftung eine umfassende biografische Recherche betrieben.
»Dieses neue Format ermöglicht Schülerinnen und Schülern, ihre eigenen Fragen zu entwickeln und Antworten darauf im zuvor aufgezeichneten Interview mit Anita Lasker-Wallfisch zu finden«, sagt Karen Jungblut vom Shoah Foundation Institute, die das Projekt mit vorangetrieben hat.
Für den Fragenkatalog hat die Stiftung eine umfassende biografische Recherche betrieben. Diese Fragen wurden dann mit Fokusgruppen, Schülern aus Konstanz und Bremen, ergänzt. Wenn eine Frage und demzufolge die Antwort nicht vorhanden ist, wird das System nach einer Auswertung damit »gefüttert«. Mit dem interaktiven Interview werde Lasker-Wallfischs unermüdlicher Einsatz gegen Antisemitismus und jegliche Form von Hass aufgegriffen, und das mache Mut.
»Das eindrucksvolle Format zeigt, welche Rolle der verantwortungsvolle Einsatz moderner Technologie für historische Bildung spielen kann«, sagt Joseph Hoppe. So würde das Museum auch zukünftigen Generationen einen persönlichen Zugang zur Geschichte ermöglichen.
TESTPHASE Vor der Corona-Krise waren bereits mehrere Schüler im Museum, um das interaktive Gespräch zu führen, berichtet Museumsmitarbeiter Frank Steinbeck, der das Projekt zusammen mit Sanna Stegmaier von der Shoah Foundation betreut. Mindestens 24 Klassen sollten es ursprünglich testen. Die Schüler, die bislang an der Testphase teilnehmen konnten, erhielten vorab Infos über die Biografie von Lasker-Wallfisch und die Schoa.
Steinbeck hat beobachtet, dass die Schüler dem Interview dabei mit ihren Fragen gerne eine eigene Richtung vorgeben – auch indem sie nicht nur eine stellen, sondern gleich mehrere anschließen, darunter zu ihren Erfahrungen in Auschwitz, den Orten ihres Lebens, dazu, was mit ihrer Familie passiert ist, wie sie gemerkt hat, dass sie verfolgt wird, und was sie nach der Schoa erlebt hat.
Bis heute haben 22 Schoa-Überlebende an »Dimensions in Testimony« teilgenommen.
Bis heute haben 22 Schoa-Überlebende an »Dimensions in Testimony« teilgenommen. Dieses ist nun das erste Zeugnis in deutscher Sprache. Vor zehn Jahren begann das Projekt der interaktiven Zeitzeugen. Das Programm wird in Kooperation mit der University of Southern California (USC), der Shoah Foundation und mit Unterstützung der Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft (EVZ) durchgeführt, die auch die Kosten von 300.000 Euro trägt.
VERANTWORTUNG Die interaktiven Gespräche sollen die realen, noch möglichen Zeitzeugengespräche keinesfalls ersetzen, betont Marianna Matzer von der EVZ-Stiftung. »Wir haben aber eine historische Verantwortung, denn auch in 20 Jahren wollen wir die Erinnerung wachhalten«, sagt sie. Zwei Vorteile des Projektes fallen ihr spontan ein: Es ist ortsungebunden und zeitlich immer verfügbar.
»So können wir damit künftig auch in Schulen gehen oder es Gedenkstätten anbieten – und vielleicht Leute erreichen, die nicht unbedingt Gedenkstätten besuchen.« Doch bis dahin wird es aufgrund der aktuellen Lage wohl noch eine ganze Weile dauern.