Die großen Fenster des Bistros »Löwenstein« in der Göttinger Innenstadt stellen für eine jüdische Einrichtung ein gewisses Risiko dar. »Wir haben lange überlegt, ob wir es machen«, gesteht Gemeindevorsitzende Eva Tichauer-Moritz. Doch zur Eröffnung an einem verkaufsoffenen Sonntag zeigen sich die Vorzüge solch architektonischer Freizügigkeit: Passanten schauen durch die Scheiben neugierig herein, und einer mischt sich sogar in das Gewimmel der Eröffnungsfeier.
Der großzügige Altbau in der Roten Straße ist das neue Domizil der etwa 60 Mitglieder zählenden Kultusgemeinde für Göttingen und Südniedersachsen. In der Universitätsstadt gibt es neben dieser noch eine zweite, liberal orientierte Gemeinde. Zunächst unter einem Dach entstanden, gehen beide inzwischen getrennte Wege.
Gäste »Wir haben viel Unterstützung für das Projekt bekommen«, sagte Tichauer-Moritz bei der Eröffnung der neuen Räume. Ein Indiz dafür war, dass zur Feier des Tages neben der Bürgermeisterin auch katholische und evangelische Geistliche sprachen. Pastorin Christiane Scheller nannte es ein »unverdientes Geschenk«, dass es heute wieder jüdisches Leben in der Stadt gibt.
Die Kultusgemeinde hatte zunächst in Räumen der gewerkschaftsnahen Bildungseinrichtung »Arbeit und Leben« Unterschlupf gefunden, mit der sie nach wie vor eng zusammenarbeitet. Später zog sie in ein Haus, in dem schon früher einmal eine kleine orthodoxe Gemeinde ihren Sitz hatte und in dessen Keller eine Mikwe existiert. Der Zufall will es, dass es zwischen dem neuen Domizil und dem Haus mit der Mikwe eine unterirdische Verbindung gibt.
Löwenstein Das im 19. Jahrhundert erbaute Gebäude in der Roten Straße gehörte der Familie Löwenstein, deren Mitglieder von den Nazis nach Auschwitz deportiert und ermordet wurden. Die Immobilie ging später an die Stadt Göttingen, die es an die Familie Grüber verkaufte. Diese habe vom ersten Tag an voll und ganz hinter dem Projekt gestanden, erzählt Tichauer-Moritz. Hausherr Anton Grüber hatte es sich nicht nehmen lassen, an den Umbauarbeiten mitzuwirken. Deshalb ehrt ihn die Gemeinde mit sechs Bäumen, die in seinem Namen in Israel gepflanzt werden.
Das neue Bistro soll mit dem Namen »Löwenstein« an die einstigen Besitzer erinnern, sagt Tichauer-Moritz. Noch ist es nicht geöffnet, weil die Küche noch nicht ganz fertig ist. In einem Monat etwa soll es so weit sein. Die Speisekarte ist koscher und vegetarisch, neben Gaumenfreuden wird es auch Kultur geben – eine Bücherecke wartet auf Leser und ein Klavier auf Musiker. Das Bistro erfüllt aber auch einen weiteren Zweck: Sechs Mitglieder der Gemeinde finden dort einen Arbeitsplatz.
Lehrhaus Das Gebäude in der Roten Straße bietet ebenso Platz für einen Gebetsraum sowie für das schon seit Längerem existierende »Jüdische Lehrhaus Göttingen«, in dessen Vorstand Juden und Christen zusammenarbeiten. Unter dem Motto »Ein Lehrhaus ist kein Haus aus Stein, sondern aus Worten« will die Einrichtung Wissen über jüdische Religion und Kultur vermitteln. Die bisher einmal pro Monat angebotenen Vorträge, Tanzworkshops oder Lernnachmittage wird es auch in Zukunft geben.
Dass das Projekt in der Roten Straße überhaupt so weit gediehen ist, sei vor allem der Gemeindevorsitzenden zu verdanken, die im positiven Sinne »penetrant« gewesen sei, lobte der Vorsitzende des Landesverbandes der Jüdischen Gemeinden in Niedersachsen, Michael Fürst, bei der Eröffnung. Tichauer-Moritz habe dem Landesverband »wiederholt auf den Füßen gestanden« und damit am Ende Erfolg gehabt.
Staatsvertrag Fürst, der in Göttingen studierte, erinnerte an die Zeit, als es in Niedersachsen lediglich 350 Juden in drei Gemeinden gab. Durch den Zuzug aus der ehemaligen Sowjetunion seien es heute 9000 in zwölf Gemeinden, die »eine neue Identität« entwickeln. Der Landesvorsitzende verwies auf Kindertagesstätten und Jugendzentren.
Teil dieser neuen Identität ist auch das jetzt eingeweihte Domizil der Göttinger Gemeinde, die zu den kleineren in dem Bundesland gehört und deren Mitglieder etwa zur Hälfte aus der ehemaligen Sowjetunion kommen. Seit Januar dieses Jahres garantiert ein neuer Staatsvertrag niedersächsischen Gemeinden die finanzielle Unterstützung der Landesregierung. Allerdings kämpfen auch diese Gemeinden wie vielerorts damit, dass der Altersdurchschnitt stetig steigt und Nachwuchs rar ist.
Um etwas für junge Leute zu tun, schloss die Göttinger Gemeinde anlässlich der Einweihung ihres neuen Domizils einen Partnerschaftsvertrag mit der Gemeinde im chilenischen Valparaiso, Heimatstadt von Tichauer-Moritz. Der Vertrag soll Studenten künftig bei Aufenthalten in der jeweils anderen Stadt das Leben und Lernen erleichtern, denn die beiden Gemeinden sichern ihnen ihre Unterstützung zu.