Eine zarte, löchrige Schneedecke liegt auf den Beeten. Einige wenige Zentimeter hohe Pflanzen schaffen es dennoch, ihre grünen Blätter herauszustrecken. Das Getreide Winterdinkel hat ein Beet für sich, einige Meter weiter entfernt wachsen Inkarnat-Klee, Winterwicke, Einkorn und Winterroggen. Alles Pflanzen, deren beste Zeit in den kalten Monaten ist.
Überragt werden die kleinen Gewächse von Bäumen. An diesem nebligen Samstagmorgen spiegelt der »Jüdische Garten«, der in den »Gärten der Welt« in Berlin-Marzahn liegt, eine Winter-Idylle wider. Es ist die erste kalte Jahreszeit nach der offiziellen Eröffnung im Oktober.
Die Buchen, Mandel-, Apfel- und Birnbäume, Esskastanien, Birken, Ulmen und die Mispel wurden bereits vor eineinhalb Jahren gesetzt. Sträucher, Weinreben, Distel, Klee und Thymian, unterschiedlichste Sorten Minze, Kartoffelpflanzen und Erdbeeren kamen später in die Erde. Im Sommer blühte alles kräftig, das Gemüse konnte geerntet und das Obst gepflückt werden.
Im Tanach mit seiner reichen Bildsprache nehmen Pflanzen viel Raum ein.
An vielen Standorten in den Gärten der Welt weisen nun Wegweiser auf die neue Landschaft hin, die in Sichtweite zum »Christlichen Garten« ihren Platz bekommen hat. Doch heute sind kaum Besucher unterwegs; es ist zu kalt, um sich lange an der frischen Luft aufzuhalten. Ganz anders als in Israel, wo Tu Bischwat das Ende der Regenzeit und damit den Beginn der idealen Pflanzperiode in Israel markiert. Es ist das Neujahrsfest der Bäume, aber mittlerweile wird an diesem Tag auch immer mehr an den Umweltschutz gedacht.
TANACH Apropos Naturschutz. Der Garten soll ein »einfacher« sein, der durch sein Konzept und das sensible Umweltverständnis überzeugt, so die beiden Landschaftsarchitekten Marc Pouzol und Véronique Faucheur vom »atelier le balto« aus Berlin, deren Entwurf die Kommission überzeugte und deren Pläne infolgedessen umgesetzt wurden.
Ihnen und auch dem Künstler Manfred Pernice und dem Architekten Wilfried Kuehn, dessen Büro Kuehn Malvezzi gerade das multireligiöse Gotteshaus »House of One« baut, war es daher wichtig, dass der Garten nicht allein biblischen oder israelischen Vorbilds ist, sondern jüdisches Leben in Berlin wiedergibt.
Im Tanach, der Hebräischen Bibel, mit seiner reichen Bildsprache spielen Pflanzen zwar eine wichtige Rolle. Dennoch gibt es im Judentum, das dem Wort so große Bedeutung schenkt, keine ausgeprägte Tradition der Gartenkunst. Das sei für die Gestaltung eines Jüdischen Gartens zunächst eine Herausforderung gewesen, sagt Rabbiner Andreas Nachama, der dem Expertenteam angehört. Denn es hätte keine Fürstentümer mit jüdischen Gärten gegeben. Ebenso wenig gab es in den Schtetln Osteuropas große Grundstücke, wenn überhaupt, dann kleine, auf denen Nutzpflanzen und ein Baum wuchsen, so der Rabbiner.
ÖKOLOGIE In der Tradition des jüdischen Gärtnerns und Kultivierens spiele ökologische Sparsamkeit eine bedeutende Rolle, im Mittelpunkt stehen dabei aktive Pflege und ressourcenschonender Umgang mit der Natur, so die beiden Landschaftsarchitekten. Gärten, die der Schönheit und Dekoration verpflichtet sind, entsprechen nicht den Vorstellungen des Judentums.
Auf dieser Fläche wachsen nun vor allem Pflanzen, die zur Geschichte und Kultur jüdischen Lebens gezählt werden. Dazu gehört auch, dass in der Diaspora oft ein kleines Stück Erde genügen musste, auf dem Nutz- und Zierpflanzen sowie Pflanzen für den zeremoniellen Gebrauch gezogen wurden.
Im Jüdischen Garten gleicht kein Beet dem anderen, weder in der Form noch mit der Frucht. Auf Zetteln steht die Frage: »Was wächst im Jüdischen Garten?«. Eine Antwort: Vogerlsalat. Kaum einer weiß, dass dieses Gemüse in einem Text von Franz Kafka eine Rolle spielt.
Kaum einer weiß, dass der Vogerlsalat in einem Text von Franz Kafka eine Rolle spielt.
Nutz- und Zierpflanzen, die zum jüdischen Leben gehören, wurden durch eine begleitende Recherche erforscht und für den Garten ausgesucht. Jüdische literarische Werke mit einem Bezug zu Pflanzen wurden als Ausgangspunkt gewählt, wie beispielsweise der Apfelbaum bei Nelly Sachs, die Hyazinthe bei Hilde Domin, der Mohn bei Abraham Sutzkever, die Tomate bei Natalia Ginzburg.
80 Werke von jüdischen Autoren, aus denen sich 80 Pflanzengattungen ergaben, die es den Gestaltern von »le balto« ermöglichten, den Jüdischen Garten zu »komponieren«, wie Faucheur betont. Vordergründige Symbolik oder Glaubensinschriften gibt es nicht.
PRINZIP Entstanden sei auf diese Weise ein vielfältiger Garten, reich an verschiedensten Nutz- und Zierpflanzen. Das Anliegen der Landschaftsarchitekten war, dass dieser Garten kräftig gedeihen solle. Nicht als ein fertiges Areal, in dem immer wieder dieselben Pflanzen blühen, sondern nach einem Prinzip des Fruchtfolgewechsels. Damit die Erde nährstoffhaltig bleibt, wird gemulcht und kompostiert.
Zwei skulpturale Gebilde aus Beton locken die Blicke auf sich, die von Manfred Pernice stammen. Sie dienen als Aufenthalts- und Orientierungsorte innerhalb des feingliedrigen Wegenetzes, das auch die Diaspora symbolisieren soll.
Hervorgegangen ist die etwa 2000 Quadratmeter umfassende Anlage aus einem Wettbewerb im Juni 2018, ausgelobt durch die Senatsverwaltung für Umwelt, Mobilität, Verbraucher- und Klimaschutz und die Grün Berlin GmbH in Kooperation mit der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung, Bauen und Wohnen.
Die Initiative für einen Jüdischen Garten in der Marzahner Parkanlage lag bei der Allianz-Umweltstiftung, die dort bereits den christlichen und den orientalischen Garten, der für islamische Kulturen steht, mit unterstützt hat. Somit wird auch die dritte und älteste monotheistische Weltreligion mit ihrem spezifischen Naturverständnis dargestellt.
EXPERTEN »Der Jüdische Garten wird der weltweit erste jüdische Garten in einer Parkanlage sein«, sagt Christoph Schmidt, Geschäftsführer der Grün Berlin GmbH, die für die Gärten der Welt verantwortlich ist. Und es stand ziemlich rasch fest, dass auch mehrere Experten in die Entscheidungen mit einbezogen werden sollen.
Diesem Gremium gehörten auch Rabbiner Andreas Nachama, Rabbiner Julian-Chaim Soussan aus Frankfurt, Hannah Dannel, Kulturreferentin des Zentralrats des Juden in Deutschland, Yael Kupferberg, Wissenschaftlerin, und Ilan Kiesling, Pressesprecher der Jüdischen Gemeinde zu Berlin, an. Die Baukosten betrugen rund zwei Millionen Euro.
In den nächsten Jahren sollen weitere Pflanzaktionen gemeinsam mit dem Umwelt-Bildungszentrum stattfinden, die das Pflanzensortiment ergänzen und weitere Aspekte des jüdischen Naturverständnisses zeigen.